Paula Modersohn-Becker 1876 – 1907
In Worpswede suchte sich Paula Modersohn-Becker bei der einfachen Landbevölkerung ihre Modelle. Das kam ihrem „Verlangen nach Einfachheit und Größe“ entgegen und dem dazu passenden Bestreben, sich in der Kunst auf das Wesentliche zu beschränken.
„Worpswede war jetzt ihr Platz, und sie konnte ihn nicht verlassen. Sie kam den Menschen dort jetzt immer näher und fühlte, dass sie viel von ihnen lernte: »Denn ich will aus mir machen das Feinste, was sich überhaupt aus mir machen lässt. Ich weiß, es ist Egoismus, aber ein Egoismus, der groß ist und nobel und sich der einen Riesensache unterwirft.«“ S. 79 *
Was sie mit der „Riesensache“ meinte, drücke sie nicht mit Worten aus, um sie nicht wieder klein zu machen. Es ging ihr um ein tiefes Verständnis von Mensch und Natur, ohne dass sie damit etwas Göttliches verbinden konnte. Diese „Riesensache“ trieb ihre Berufung an.
Die Armenhäuslerin Mutter Schröder, genannt „Dreebeen“, diente der Künstlerin häufiger als Modell. Das hier abgebildete Portrait war eines der letzten Bilder vor Paula Modersohn-Becker vor ihren frühen Tod mit 31 Jahren.
Das Bild macht auf den ersten Blick einen eher düsteren und beklemmenden Eindruck. Der massive Körper und die große Glaskugel im linken oberen Quadranten des Bildes beherrschen das Bild. Die Kugel ist größer als der Kopf der alten Frau. Umgeben ist sie von einem Feld wilder Mohnblumen, die im Schoß aufeinander gelegten Hände halten einen Fingerhutstengel. Aus den erdigen Farben stechen das Rot des Kleides und der Mohnblumen hervor. Aber auch sie sind den dunklen Erdfarben angepasst. Nur der Hintergrund bildet mit seiner hellen gelbgrünen Färbung einen starken Kontrast. Einen leichten farblichen Kontrast bildet noch der bläulichen Färbung im unteren Bereich des Kleides. Er bleibt der umgebenden Färbung aber angepasst. Der Blick der Frau ist abgewandt und die dunkelbraun gefleckte Gesichtsfarbe wirkt auch eher abweisend-verschlossen. Der Mund zeigt eine innere Entschlossenheit. Und doch:
Die alte Armenhäuslerin ist im Bild ganz gegenwärtig und scheint unerschütterlich in sich zu ruhen, vielleicht weil sie mit der sie umgebenden Natur eine Einheit bildet.
Die von mir etwas chaotisch gefärbte erdgrüne Umrandung des Bildes verstärkt noch den Eindruck des Naturhaft-Düsteren. Die äußere Situation der Armenhäusler ist hoffnungslos und die menschliche Gesellschaft hat sie an den Rand der Existenz gebracht. Und dennoch: auch in dieser Situation sieht die Künstlerin die Größe, die sie dadurch, dass sie die „Alte Armenhäuslerin“ malt, sich ihr zuwendet, und die Würde dieser Frau. Auch die alte Frau wird eine Ahnung davon haben, dass sie eine durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingte Situation gefangen gehaltene Prinzessin ist, die auf Erlösung wartet. Vielleicht weisen das rote Gewandt und die roten Mohnblumen auf die menschlich-mütterlichen Zuwendungen, die sie ihren in der gleichen aufs Überleben ausgerichteten Mitmenschen hat zukommen lassen. Vielleicht auch in einer Form, die nicht unbedingt immer freundlich war, wie die Fingerhutblume in ihren Händen andeuten könnte. Aber das sind Spekulationen.
Paula Modersohn-Becker ging es wohl weniger um die individuelle Person, als um ihr künstlerisches Empfinden. Es ist stark vom Weiblichen und Mütterlichen bestimmt. Vielleicht kann man sogar sagen, dass sie das Göttliche über ihren Körper empfindet und auch in ihren Mitmenschen sieht. Dass es dabei um die reinste innere Erfahrung geht, geht aus dem hervor, was sie einem jungen Maler-Kollegen (Heinrich Vogler) schrieb:
„Schöpfen Sie weiter Ihre Kunst aus diesem reinen, unerschöpflichen Bronnen, halten Sie Ihr Allerinnerstes rein, das, was wir mit den Kindern und den Vögeln und den Blumen gemeinsam haben.“ S. 103*
Was sie mit dem Göttlichen verbindet, geht aus einem abendlichen Gespräch mit Rilke hervor:
„An diesem Abend hatten Rilke und Paula einen Gedankenaustausch über Gott. Auch von diesem »reichen Abend im Atelier mit den Lilien« und den Gesprächen berichtet der Dichter in seinen Aufzeichnungen: »Ich habe mich anfangs so oft gewundert, dass Sie den Namen Gott gebrauchen (auch Dr. Hauptmann nannte ihn oft) und dass Sie ihn so schön gebrauchen können«, sagte Paula. »Mir war dieses Wort so sehr genommen. Freilich, ich habe seiner auch nie heftig bedurft. Manchmal, früher, glaubte ich: im Wind ist er, aber meistens empfand ich ihn nicht als einheitliche Persönlichkeit. Ich kannte nur Stücke von Gott. Und manch einer seiner Teile war schrecklich. Denn auch der Tod war nur seines Wesens ein Teil. Und er erschien mir sehr ungerecht. Er duldete Unsägliches, ließ Grausamkeit und Gram zu und war gleichgültig groß. (…) Nein, mir ist dies alles doch fremd, mir ist Gott überhaupt >sie<, die Natur. Die Bringende, die das Leben hat und schenkt.«
Paulas Eingeständnis, dass sie sich nicht zu einem männlichen Gott bekennen konnte, sondern an eine weibliche Gottheit glaubte, setzte Rilke seine Vorstellung von einem unvollendeten Gott entgegen, der erst werden müsse: »Wann sollte er auch geworden sein? Der Mensch bedurfte seiner so dringend, dass er ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte ihn der Mensch, und er sagte: Gott ist. Jetzt muss er sein Werden nachholen. Und wir sind, die ihm dazu helfen.« “ * S. 133 f
Bohlmann-Modersohn, Marina: Paula Modersohn-Becker, Eine Biographie mit Briefen, München 2007