Vincent van Gogh 1853 – 1890
Schon der erste Anblick des Bildes ist für mich überwältigend. Die Sonnenblumen in der Vase springen mich regelrecht an und erzeugen ein Gefühl von Fülle, reicher Ernte und symbolisieren alles, was positiv ist. Sie erzeugen bei mir ein starkes Wohlgefühl: Alles ist gut. Die schlichte Vase, aus der die Fülle der Blumen hervorquellen, steht auf einem ebenso schlichten Untergrund, der wie eine Landschaft am Horizont in den türkisfarbenen Hintergrund wie in der Weite des Himmels mündet. Wenn ich den Fokus meines Blicks nicht auf die Blumen richte, sondern auf diesen Hintergrund, entsteht ein Gefühl von Weite, in der die Blumen in der Vase wie ein Monument erscheinen. Die eher kühle, aber nach meinem Empfinden sanfte Farbe des Hintergrundes, steigert noch die Gelb- und Brauntöne, von denen das übrige Bild geprägt ist.
Das Bild ist kein übliches Stillleben. Die Vase mit den Sonnenblumen steht nicht auf einem Tisch, eventuell im Ensemble mit anderen Gegenständen in einem Wohnraum, sie ist ein singuläres Ereignis.
Auf die untere linke Seite der Vase hat van Gogh seinen Vornamen geschrieben. Die Sonnenblumen sind seine Blumen. Er schreibt 1889 an seinen Bruder: „Du wirst sehen, diese Bilder (Sonnenblumen) sind ein Blickfang. Aber ich rate Dir, behalte sie für dich, zu deinem Vergnügen, für Dich und Deine Frau.“
„Gauguin liebte diese Bilder außerordentlich. Er sagte unter anderem: : „Ça … c’est … la fleur! ‚Das … das ist … die Blume!‘
„Du weißt, die Pfingstrose gehört Jeannin, die Malve gehört Quast, aber die Sonnenblume gehört gewissermaßen mir.“
Van Gogh sieht in der Sonnenblume, die sich ja immer auf die Sonne ausrichtet, sich selbst und die Sonne symbolisiert, das (göttliche) Leben. Darauf könnte der Vorname auf der Vase hinweisen. Sein innere unabweisbare Schaffensdrang ist für ihn wie eine innere Sonne, die stärker ist als alles andere, und diese „Sonne“ will er den Menschen durch die Strahlkraft der Farben offenbaren.
„Ach, die Leute, die nicht an die Sonne hier glauben, sind fast gottlos. (504) Lieber Bruder, ich kann im Leben und in der Malerei sehr gut ohne den lieben Gott auskommen, aber ich leidender Mensch kann nicht eine Sache, die stärker ist als ich, entbehren, die mein wirkliches Leben ist, die Macht zum Schaffen, … und im Gemälde möchte ich eine Sache sagen, tröstlich wie Musik, ich möchte Männer und Frauen malen mit dieser Ewigkeit, deren Zeichen einst der Heiligenschein war, und die wir in den Strahlen suchen, in dem Leuchten unserer Farben. (515)
Gleichzeitig symbolisieren seine Sonnenblumenbilder Dankbarkeit.
„Bei solchen Gedanken, aber nur ganz von fern, kommt mir der Wunsch, mich zu erneuern, und Abbitte dafür zu tun, dass meine Bilder schließlich fast ein Angstschrei sind, obgleich sie in der bäuerlichen Sonnenblume Dankbarkeit symbolisieren mögen.“ (1890 in der Irrenanstalt Saint-Rémy)
Vincent van Gogh wurde 1853 als Pfarrerssohn geboren. Ein Jahr vorher wurde ein Junge mit Vornamen Vincent geboren, der aber nach der Geburt starb. Vincent hatte fünf jüngere Geschwister, vier Schwestern und einen vier Jahre jüngeren Bruder mit Namen Theo, der in seinem Leben eine entscheidende Rolle spielte. Ob Vincent schon als Kind die Einsamkeit suchte und die Natur beobachtete, statt mit seinen Geschwistern zu spielen, kann stimmen oder auch nicht. Über Vincent van Goghs Leben gibt es viele phantasievolle Erzählungen.
Wer sich mit seinem Leben beschäftigen will, kann das so ausführlich und authentisch wie bei keinen anderem Künstler. Seine Briefe bilden ein einmaliges hochstehendes literarisches Werk. Er schrieb über 900 Briefe – die meisten davon an seinen Bruder Theo – mit über 200 Skizzen. Die Briefe und seine Werke sind die zwei Seiten einer Medaille. Alle Briefe sind veröffentlicht. In deutscher Sprache kann ich empfehlen:
Vincent van Gogh, Von Feuer zu Feuer, Sein Leben von ihm selbst berichtet, herausgegeben und bearbeitet von Hans Walter Bähr, München 1970 (antiquarisch zu erhalten).
Eine kleine Zitatensammlung:
Vincent van Gogh, Worte wie Feuer, Herausgegeben und eingeleitet von Maria Ott, Freiburg 1983 (Zitatensammlung)
Statt einer Zeittafel seines Lebens drucke ich die Einleitung aus diesem kleinen Buch von Maria Ott ab, weil sie auch Erklärungen zu den einzelnen Lebensdaten gibt und noch interessante anfügt:
Einleitung
Vincent van Gogh – geboren am 30. März 1853 in Groot-Zundert in Brabant, gestorben am 29. Juli 1890 in Auvers-sur-Oise bei Paris – Angestellter im Kunsthandel (Den Haag, London, Paris), Hilfslehrer in Ramsgate, Theologiestudent in Amsterdam, Prediger in der Borinage (Petites Wasmes, Belgien), wo ihn das Elend der Grubenarbeiter so erschüttert, dass er alles hergibt, um ihre Not zu lindern. Seine Versuche, die Lage der Bergleute strukturell zu verbessern, schlagen fehl. Er will einer der Ihren sein, lebt in franziskanischer Armut, hungernd und frierend in einer Bretterbude. Weil seine Behörde das nicht schicklich findet, wird er seines Dienstes enthoben. In dieser bittersten Not kommt für ihn die Wende zur Kunst. Er zeichnet die einfachen Leute und Dinge seiner Umgebung. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Theo beginnt ihn zu unterstützen.
Sechs Jahre müht er sich ab (Etten, Den Haag, Drenthe, Nuenen, Antwerpen), durch Abzeichnen von Landschaften, Menschen und Dingen das Auge zu schärfen, die Hand zu üben, lange Zeit ohne seine Fortschritte zu erkennen. In der Liebe hat er kein Glück. Er harrt aus, von der Gesellschaft verachtet, als Künstler nicht anerkannt, ein ausdauernder Hungerleider. Zwei Jahre bei seinem Bruder Theo in Paris (1886-1888) geben seiner Entwicklung durch die Bekanntschaft mit Impressionisten und Pointillisten einen Stoß nach vorn.
Um sich selbst zu finden, zieht er im Februar 1888 nach Arles. Dort entstehen seine farbenglühenden Bilder. Ende des Jahres Nervenanfall, der sich künftig vierteljährlich wiederholt. Einjähriger Aufenthalt in der Irrenanstalt in Saint-Remy bei hellem Bewusstsein. Die Bürger von Arles haben seine Internierung beantragt, obgleich er in seinem Anfall niemand außer sich selber verletzt hat. Mai 1890 übersiedelt Vincent nach Auvers-sur-Oise. Im Juli erfährt er, dass Theos Stellung in der Kunsthandlung Goupil gefährdet ist. Theo, der ihn seit zehn Jahren finanziell getragen hat – erst vor kurzem hat er sich verheiratet, sein Kind hat er nach Vincent benannt -, nun ist er selber in Schwierigkeiten.
Van Gogh steht vor einer Wand. Er fürchtet erneute Anfälle, anhaltenden Wahnsinn, durch den er hilflos und seinem Bruder zur unerträglichen Last würde. Er setzt ungern seinem Leben ein Ende.
Vincent van Gogh, ein Maler, den jeder kennt. Das hat er erreicht, volkstümlich in einem tiefen Sinn zu werden. Für die Wände in den Wohnungen der einfachen Leute, nicht für die Kunstgalerien und Salons wollte er malen und nicht für den Ruhm. Und nicht für die Kunst.
Kann man so etwas sagen von einem, der Tag für Tag in die sonnenglühende provenzalische Landschaft wie in ein Feuer hineinging, um seine Kunst zur letzten Reife zu bringen?
Van Gogh hat sein Leben an die Kunst drangegeben und doch das Leben höher eingeschätzt als die Kunst. „Diese Kunst, die ewig lebende, und diese Wiedergeburt, dieser grüne Schössling, der aus den Wurzeln des alten, gefällten Stammes aufsprießt, dies sind so sehr Dinge des Geistes, dass uns eine gewisse Schwermut überkommt bei dem Gedanken, dass man mit geringerer Mühe Leben statt Kunst hätte schaffen können.“ Ein andermal versichert er, „dass die Liebe zu Büchern ebenso heilig ist wie die Liebe zu Rembrandt, ja, ich glaube sogar, dass die beiden sich ergänzen“.
Es gibt Briefstellen, in denen er seinen Bruder Theo überredet, den Kunsthandel aufzugeben und selber auch ausübender Künstler zu werden, und entgegengesetzte wie dieser. Vincent, sage sich oft, er hätte vielleicht besser daran getan, im Kunsthandel zu bleiben, denn „so verhilft man doch anderen zum Schaffen“. Und nichts sei künstlerischer, als die Menschen zu lieben.
Bei einem an Leidenschaftlichkeit nicht zu überbietenden Maler zeugt solches immer wiederkehrende Abstandnehmen von einer umso stärkeren geistigen Freiheit.
Die künstlerische Kraft van Goghs hat eine tiefere Quelle, aus der sie sich schöpft. Es ist die Liebe zu den Menschen, insbesondere zu den Armen, in denen er das schönere Licht der Menschlichkeit findet. Diese Menschenliebe ist in ihm früher als die Kunst und übergreift sie, und macht gerade deshalb ihre Wahrheit und Stärke aus.
Weil die Kunst sein Weg zu den Menschen ist und sein Geschenk an sie – andere Wege wie die des Predigers mussten Holzwege bleiben -, sehnt sich Vincent doch immer wieder heiß danach, sein Werk überzeugend hervorzubringen, und er muss seinen Glauben an die Kunst immer wieder beteuern und bestärken lassen: An jener Briefstelle folgt der Seufzer an Theo gewandt: „Lass mich fühlen, wenn Du kannst, dass die Kunst lebendig ist, der Du die Kunst vielleicht mehr liebst als ich!“
Mehrmals hing er ernstlich der Idee nach, so etwas wie eine Wohngemeinschaft der Künstler zu gründen, einen Zusammenschluss der Maler, um der finanziellen Misere bei sich und den andern entgegenzusteuern, nachdem die bürgerliche Gesellschaft nicht, wie er es für richtig hielte, die Künstler trug. Gewöhnlich dachte er dann zuerst an die andern, deren Notlage ihn bestürzte.
Die größere Liebe hat den Maler Vincent großgemacht. Aus den dunklen Bildern der Anfänge brach eine feuerwerfende Sonne hervor, Licht materialisierte sich in unwahrscheinliche Gelbtönen, die Lichtflut war nicht mehr aufzuhalten, sie erreichte die Menschen.
Er selber hat es nicht erlebt. Seine Bilder, außer einem einzigen (diese Aussage stimmt so nicht, H.L), fanden keine Käufer. Sie lagen zuhauf unter den Schränken, unter dem Sofa, unter dem Bett im Gastzimmer von Theos Wohnung gestapelt, der in seiner Treue nie nachließ. Die Brüder schrieben sich oft täglich. 652 Briefe von Vincent allein an seinen Bruder sind erhalten geblieben. Theo starb ein halbes Jahr nach Vincent.
Karl Jaspers (deutscher Philosoph, H.L.) sagt von diesen Briefen Vincents, sie seien „Dokumente eines Denkens von hohem Ethos … einer unendlichen Liebe, einer großherzigen Menschlichkeit“, und er spricht von der „Unbedingtheit“, dem „hohen Anspruch“, dem „religiös durchdrungenen Realismus“, der „vollkommenen Wahrhaftigkeit“ seiner gesamten Existenz, die „von einzigartiger Höhe“ war.
Vincents ganze Existenz ist eine an die Menschen gehende Aussage, nicht seine Bilder allein, auch seine Worte, an die wir uns hier halten wollen, um ihm zuzuhören. Es kommt vor, dass Worte wahrer sind als Taten, weil sie gelegentlich ungehinderter, und unaufgehalten von der Materie des Schicksals und der Gestaltung, das Innerste des Menschen, das Gemeinte und Ersehnte, bekunden können.
Besonders wenn sie vom Herdfeuer „unendlicher Liebe“ kommen. Hat das Feuer der provenzalischen Sonne den Maler Vincent verzehrt, um aus seinen Bildern zu lodern, so ist es auch das Element, das Frierende um sich sammelt, das man hütet, das Leben gewährt, das Licht verbreitet, „freundliches Licht“, wie van Gogh gerne sagt, das Element, das reinigt, das den kurzen Weg nimmt, das unaufhaltsam nach oben drängt.
Das Feuer ist das Element der Nähe, auch wenn es fernher oder in die Ferne strahlt. So hat Vincent van Gogh trotz seines religiösen Grundzuges nicht mythische Gestalten und nicht Heiligenfiguren, und trotz seines vielen Nachdenkens keine Gedanken gemalt, sondern das sinnenhaft Naheliegende, die einfache Landschaft, die hart arbeitenden, bedrückten Menschen, deren rauen Linien sein Stift entschlossen und ehrfürchtig nachging. Ihnen wollte er nahe sein. Den „Heiligenschein“ der schlichten Menschen wollte er zum Leuchten bringen. S. 7 bis 14
Nun noch einige Texte aus: Vincent van Gogh, Von Feuer zu Feuer, Sein Leben von ihm selbst berichte, herausgegeben und bearbeitet von Hans Walter Bähr.
„Als Theo van Gogh Anfang August 1890 in einem Brief an die Schwester das Wesen des Bruders, wenige Tage nach Vinncents Tod, in einigen Worten umriss, schrieb er, Vincent habe seine Überzeugung geprüft‚ an den Besten und Edelsten, die vor ihm waren: Ein Beweis dafür ist seine Liebe zu seinem Vater, seine Liebe für das Evangelium, für die Armen und Unglücklichen, für die Großen der Literatur und Kunst. – Man muss einsehen, dass er ein großer Künstler war; ein großer Mensch zu sein, geht oft damit zusammen.‘“ S. 350
„Was ist das Zeichnen, wie kommt man ans Ziel? Es ist ein Sichdurcharbeiten durch eine unsichtbare Eisenwand, die zwischen dem, was man fühlt, und dem, was man kann, zu stehen scheint. (230) Sage ihm [Serret], dass in meinen Augen die wahren Maler die sind, welche die Dinge nicht so malen, wie sie sind, trocken und analysierend, sondern so, wie sie fühlen. Sage ihm, dass mein größtes Verlangen ist, solche Unrichtigkeiten, solche Abwandlungen machen zu lernen. (406) Es ist im Malen etwas Unendliches – ich kann es Dir nicht so erklären. – In den Farben sind verborgene Dinge von Harmonie oder Kontrast, Dinge, die durch sich selber wirken und die man durch kein anderes Medium ausdrücken kann. (219) Farbe drückt an sich selbst etwas aus. – Man bewahrt die Schönheit der Farben in der Natur nicht durch buchstäbliches Nachahmen, während man sie durch Neuschaffen in einer gleichwertigen Farbenskala, die durchaus nicht dieselbe sein muss wie die gegebene, bewahrt. Findest Du darin ein gefährliches Hinüberneigen zur Romantik, eine Untreue gegen den Realismus? – Man beginnt damit, sich fruchtlos abzuschinden, der Natur zu folgen, und alles geht gegen den Strich; man endet damit, still aus seiner Palette zu schaffen, und die Natur stimmt damit überein, folgt daraus. Aber diese beiden Gegensätze bestehen nicht ohne einander. (418) (aus einem Brief Vincents an seinen Bruder Theo)
Die Bedeutung von Arles, der Sonne und der Sonnenblumen für van Gogh geben die folgenden Texte wieder, aus dem Heft:
Rousset, Raymond: „Der Weg des Lichts“, Van Gogh im pays d’Arles:
Van Gogh zieht es in den Süden, er fühlt sich zum Licht hingezogen in dem Bewusstsein, der Hölle in Paris entronnen zu sein. So schreibt er an Theo bei seiner Ankunft in Arles: « Als ich Dich an der Gare du Midi verlassen habe, schon ziemlich betrübt, fast krank und alkoholabhängig, um durchzuhalten, da konnte ich einfach nicht mehr», und er fügt hinzu: « ich war sicher auf dem besten Weg, mir eine Lähmung zuzuziehen, als ich aus Paris fortgegangen bin. Es hat mich ganz schön gepackt, als ich aufgehört habe, soviel zu rauchen und zu trinken.»
Was kann die wunderschöne Landschaft von Arles Vincenz bieten? Er verlangt von ihr nur ein Dach über dem Kopf, seinen Lebensunterhalt «ein Ende seiner Einsamkeit, Leinwand und Farbe, viel Farbe. Dafür wird Theo aus Paris sorgen. van Gogh hatte sich nicht getäuscht, als er Arles wählte.
« Aber, mein lieber Bruder, » schreibt er, « Du weißt, ich fühle mich wie in Japan », und weiter, « ich habe viel Schönes gesehen, die Ruine einer Abtei auf einem mit Stechpalmen, Pinien und grauen Olivenbäumen bepflanzten Hügel. Ich möchte damit beginnen, Dir zu sagen, dass mir die Landschaft so schön wie Japan erscheint, wegen der Reinheit ihrer Atmosphäre und der Wirkung der schönen Farbe. Das Wasser leuchtet in schönem Smaragdgrün und herrlichem Blau in der Landschaft, so wie wir es in Kreppstoffen sehen. Die Sonnenuntergänge lassen in blassem Orange das Land blau schimmern. »
Der blühende Mandelblütenzweig in seinem Zimmer, den er gerade gemalt hat, das ist wieder ein Anklang an Japan, ein erster Versuch einer langen Reihe von Blütenzweigen und Obstgärten, die liebevoll auf Leinwand festgehalten worden sind in der überschäumenden Freude dieser ersten blendenden Begegnung mit dem Frühling in der Provence, Kirsch-, Pfirsich-, Pflaumen- und Aprikosenbäume dargestellt unter einem Himmel, der vom Mistral, der ohne Unterlass weht, reingefegt wird, besingen die Entdeckung einer neuen Landschaft.
In weniger als 14 Tagen malt van Gogh, ohne sich eine Pause zu gönnen, 8 große Gemälde.
« Ich befinde mich, » schreibt er, « in einer Arbeitswut, da die Bäume in Blüte stehen und ich einen Obstgarten von unbeschreiblicher Fröhlichkeit malen wollte». Und er analysiert mit der Feinsinnigkeit des Künstlers seine farbige Vision. «ich hatte ein Bild von so einem Obstgarten gemalt, einem Terrain, das lilafarben schimmerte, umschlossen von einem Rosengarten, zwei rosafarbenen Pfirsichbäumen im Gegensatz zu einem blau-weiß gefärbten Himmel. Vielleicht ist es die beste Landschaft, die ich gemalt habe.» Sein Geist findet keine Ruhe. Noch sucht er seine Hoffnung in der Zukunft: « Du weißt, mein lieber Bruder, es gibt Möglichkeiten, dass sich unsere Hoffnung erfüllen wird», und diese Hoffnung wird ihn nicht verlassen.
Am 30. März feiert Vincenz allein seinen 36. Geburtstag. Seit dem ersten Tag, an dem er sich in Arles niedergelassen hat, träumt er unaufhörlich von einer Gesellschaft von Malern oder wenigstens von der Gegenwart eines anderen Malers, der seine Begeisterung mit ihm teilen könnte, mit dem er Ideen austauschen könnte, in einer brüderlichen Gemeinschaft arbeiten könnte. Er denkt an Gauguin, der sich in Pont-Aven in der Bretagne niedergelassen hat, von Schülern umgeben, die ebenso mittellos sind wie er und der dort fast eine Schule gegründet hatte, mit all seiner Autorität und Phantasie. Vincenz ist von dem Wunsch, Gauguin nach Arles zu holen wie besessen; wie eine Leier kehrt es als Leitmotiv in jedem seiner Briefe wieder, im Unterbewusstsein aus seinem Traum erweckt. Er hat so viel zusammengestellt, die Wahl des Ortes, Möbel und Dekoration, er denkt an die Organisation eines gemeinsamen Lebens, die Finanzierung des Unternehmens. In die Realisierung dieses Planes wird er so viel Willenskraft zu dessen Gelingen stecken, dass er es selbst dann realisieren will, wenn er mögliche und ernste Schwierigkeiten in der Zukunft vorhersieht.
Seine Vorstellung beflügelt seine Aktivität, das Ziel, das er erreichen will, spornt ihn zu unablässiger Arbeit an, dazu, sich in der kleinen Stadt Arles einzurichten, die er jeden Tag mehr entdeckt und schätzt « ich bedauere es überhaupt nicht, hierhergekommen zu sein, denn ich finde die Natur hier prachtvoll», und weiter «bis zum Augenblick lastet die Einsamkeit nicht so sehr auf mir, so interessant empfinde ich die Kraft der Sonne und ihre Wirkung auf die Natur! »
Vincent van Gogh artist QS:P170,Q5582
Details of artist on Google Art Project, Vincent van Gogh – The yellow house (‚The street‘), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Im Mai kommt alles ins Rollen. Vincenz mietet das gelbe Haus an der Place Lamartine, bringt sein Material dorthin, nachdem er nicht ohne Krach das Restaurant Carrel verlassen hatte.
15 Franc Miete pro Monat für vier kleine Räume, die er einzurichten, zu streichen und zu möblieren hatte. Triumphierend kündigt er das Theo an.
Heute habe ich den rechten Flügel dieses Gebäudes gemietet (eine Skizze davon findest Du anbei), der aus vier Räumen besteht oder auch eher zweien mit je zwei Räumen. Sie sind mit gelber Farbe, die an der Luft leicht ausgebleicht ist, angestrichen, bei hellem Sonnenschein. Ich habe sie zu fünfzehn Franc pro Monat gemietet.
Im Gedanken an sein kleines gelbes Haus sucht er den sonnenumfluteten Tempel neuer Malerei auf den Feldern mit Sonnenblumen, denen, die der Anziehungskraft des Tagessterns gehorchen, indem sie ihre zackigen Blumenkronen in dessen Richtung schwenken, als feurige Scheibe des Hochsommers: die Sonnenblumen.
Ich bin dabei zu malen», so scherzt er, wie ein Spötter, «wie jemand aus Marseille, während er seine Bouillabaisse isst, was Dich wenig erstaunen mag, weil es sich um Sonnenblumen handelt. Ich habe drei Gemälde in Vorbereitung. Drei große Blumen in einer grünen Vase mit hellem Grund, ein Bild mit 15. Drei Blumen, eine von ihnen in der Blüte, blattlos und eine Knospe auf königsblauem Grund, ein Bild mit 25. 12 Blumen und Knospen in einer gelben Vase (ein Bild mit 30). Das letzte ist hell auf hellem Grund und dürfte, so hoffe ich, das Beste sein. Ich werde damit jedoch nicht Schluss machen jetzt bin ich beim 4. Bild der Sonnenblumen.
Unter den beiden Brüdern hat sich eine solche Übereinstimmung herausgebildet wie wenn sie beide Schöpfer brennender Werke wären, die jeden Tag leuchtender erschaffen werden, während sich der Sommer nähert.
Rousset, Raymond: „Der Weg des Lichts“, Van Gogh im pays d’Arles, (wahrscheinlich antiquarisch zu bekommen, H.L.): S. 3 bis 9 (Auszüge)
Vincent van Gogh, Public domain, via Wikimedia Commons
Eigentlich wollte ich ein Bild mit einem Selbstporträt van Goghs machen, das er in Arles gemalt hatte, und ihn blass und ausgemergelt nach einem Krankheitsanfall zeigt. Es demonstriert, wie er sich mit seiner ganzen Existenz für seine Anliegen eingesetzt hat. Mit meinen Texten dazu wollte ich seine ungewöhnliche Persönlichkeit beschreiben. Der Druck des Bildes erschien mir aber etwas dunkel. Als ich dann ein Gemälde mit Schuhen van Goghs sah, das auch als Kunstwerk eindrucksvoll ist, war mir gleich klar, dass ich seine sich aufopfernde Persönlichkeit mit seinem Schuhbild am besten demonstrieren könnte.
Alte abgetragene Schuhe sind eigentlich kein Motiv, für das sich normalerweise ein Künstler erwärmen kann und daher sind sie auch einmalig in der Kunstgeschichte. Einige andere Versionen dieser Schuhe, die van Gogh gemalt hat und die ich kannte – in „erdigen“ Farben, wären mir in der Reihe meiner „Grünen Quadratbilder“ zu langweilig gewesen. Diese Version war mir vorher noch nicht begegnet. Ich habe dieses Bild von van Gogh ausgewählt, weil es auf die Größe seiner Person verweisen kann, aber auch weil es ein guter Beitrag zu der heutigen Auseinandersetzung im Streit darum liefert, was ein Kunstwerk überhaupt ausmacht. Ohne die tiefe Spiritualität von van Gogh wäre dieses Bild nicht zu verstehen.
Die folgende Auseinandersetzung bezieht sich aber auf das Schuhbild von 1875/76. Van Gogh hat es wohl 1875 oder 1876 in Paris gemalt, ohne es zu benennen und zu datieren.
Das Walraf-Richards Museum stellte es 2010 in einer Einzelausstellung aus:
„Bis heute diskutieren Philosophen und Künstler über die Bedeutung des schlichten Kunstwerkes, welches Vincent van Gogh im Jahre 1886 entstehen ließ. Den Anstoß zu der fortwährenden Diskussion gab Martin Heidegger, der die Schuhe in den 1930er Jahren sogar zum Thema einer Vorlesung an der Heidelberger Universität machte und in seinem Aufsatz ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ Funktion und Nutzen von Kunst und ihrer Interpretation analysierte.“ (Bericht im Internet)
Über die Ausführungen von Heidegger habe ich vor einigen Jahren bei dem amerikanischen Philosophen und Bewusstseinsforscher Ken Wilber eine Abhandlung gelesen, die den Hintergrund für dieses Bild beleuchtet und gleichzeitig eine gute Beschreibung liefert, wie man an ein Kunstwerk herangehen kann:
„Stellen wir uns zum Beispiel einmal vor, dass man bei einem Kartenspiel zusieht. Alle Karten werden nach bestimmten Regeln benutzt, aber das Interessante dabei ist, dass diese Regeln nicht auf den Karten selbst stehen: Keine der Regeln findet sich irgendwo auf den Karten. Jede Karte steht also in einem umfassenden Kontext, der ihr »Verhalten« und ihre »Bedeutung« regelt, und die tatsächlichen Regeln und Bedeutungen der Karte im jeweiligen Spiel können nur entdeckt und richtig interpretiert werden, indem man eine umfassendere Perspektive einnimmt. Das bloße Studium der Karte selbst führt niemals zu den Regeln und Bedeutungen hin, denen sie gehorcht.
In derselben Weise wird der Inhalt eines Kunstwerks selbst zum Teil durch die verschiedenen Kontexte bestimmt, in denen das Urholon * (der Ursprüngliche Impuls des Künstlers, H.L.) entsteht und in denen das Kunstwerk-Holon (Das Kunstwerk selbst, H.L.) existiert. Nachfolgend ein kleines Beispiel, aus dem ersichtlich wird, was geschehen kann, wenn man sich nur auf das Kunstwerk-Holon allein konzentriert.
Ein Paar abgetragener Schuhe
In seiner Abhandlung »Der Ursprung des Kunstwerkes« interpretiert Heidegger ein Gemälde von van Gogh, das ein Paar Schuhe zeigt, um daran deutlich zu machen, dass Kunst Wahrheit enthüllen kann. Während man letzterem nur zustimmen kann, ist Heideggers Weg in diesem speziellen Fall ein schlagendes Beispiel dafür, welch schwere Fehlinterpretationen entstehen können, wenn man holonische Kontexte (Kontexte, die selbst wieder eine Einheit bilden, H.L.) außeracht lässt.
Das Gemälde, auf das sich Heidegger bezieht, zeigt nichts als ein Paar stark verschlissener Schuhe ohne Schnürsenkel in der Vorderansicht, und dies ist schon alles; es sind keine weiteren Objekte zu sehen. Heidegger nimmt an, dass es sich um ein Paar Bauernschuhe handelt, und er sagt, dass er nur unter Bezugnahme auf das Gemälde zum Kern der Botschaft vordringen könne:
Um dieses Paar Bauernschuhe herum ist nichts, wozu und wohin sie gehören könnten, nur ein unbestimmter Raum. Nicht einmal Erdklumpen von der Ackerscholle oder vom Feldweg kleben daran, was doch wenigstens auf ihre Verwendung hinweisen könnte. Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. Und dennoch.
Heidegger
Und dennoch versucht Heidegger, unter reiner Bezugnahme auf die Form des Kunstwerks zum Kern von dessen Bedeutung vorzudringen:
Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derb-gediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.
Heidegger
(Diese abenteuerlichen Ausführungen haben meiner Meinung nach wenig mit dem Bild von van Gogh zu tun. Kritik dazu s.u., Anm. 1, H.L.)
Dies ist eine wunderschöne Interpretation, wunderschön formuliert, und sie vertieft sich einfühlsam in die Details des Gemäldes. Umso betrüblicher ist es, dass praktisch keine einzige Aussage dieser Interpretation zutrifft.
Zunächst einmal sind dies van Goghs Schuhe, nicht diejenigen einer Bäuerin. Er wohnte damals in der Stadt und lenkte keineswegs seine mühseligen Schritte über das Feld; unter den Sohlen ist kein reifendes Korn; nichts von einem langsamen Gang durch die immer gleichen Furchen des Ackers, kein Feuchtes und Sattes des Bodens, und keine Einsamkeit des Feldweges. Keine Spur von einem unerklärten Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. »Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist«, ruft Heidegger aus.
Mag sein, aber Heidegger ist keineswegs zu dieser Wahrheit vorgedrungen. Vielmehr muss man – ohne in irgendeiner Weise die relevanten Merkmale des Kunstwerk-Holons selbst zu ignorieren – über das Kunstwerk hinaus in größere Kontexte eindringen, um seine Bedeutung tiefer zu ergründen.
Fragen wir zunächst nach der Absicht des Urhebers. Van Gogh selbst hat sie in einem Gespräch über die allgemeinen Umstände der Entstehung des Werks beschrieben. Paul Gauguin teilte 1888 mit van Gogh in Arles ein Zimmer, und es fiel ihm auf, dass Vincent ein Paar völlig verschlissener Schuhe aufbewahrte, die für ihn eine sehr große Bedeutung zu haben schienen. Gauguin berichtet:
Im Atelier lagen ein Paar genagelter Schuhe, ganz verschlissen und mit Schmutz besprenkelt; er machte davon ein bemerkenswertes Stillleben. Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl hatte, dass hinter diesem alten Relikt eine Geschichte stecken müsse, und ich wagte eines Tages die Frage, ob er einen Grund dafür habe, dass er etwas, was man normalerweise dem Lumpensammler auf den Karren werfen würde, so respektvoll aufbewahrte.
Paul Gauguin
Vincent beginnt also die Geschichte dieser verschlissenen Schuhe zu erzählen. »Mein Vater«, sagte er, »war Pfarrer, und auf sein Drängen studierte ich Theologie, um mich auf meinen künftigen Beruf vorzubereiten. Als junger Pfarrer ging ich eines schönen Morgens nach Belgien, ohne meiner Familie etwas zu sagen, um in den Fabriken das Evangelium zu verkünden, nicht so, wie man es mich gelehrt hatte, sondern so, wie ich es selbst verstand.
Diese Schuhe haben, wie du siehst, die Strapazen dieser Wanderschaft gut überstanden.
«Aber warum genau waren diese Schuhe für Vincent so wichtig? Warum behielt er diese verschlissenen und unansehnlichen Schuhe so lange bei sich? Gauguin fährt fort: »Als Vincent bei den Bergleuten der Borinage predigte, nahm er sich eines Opfers eines Grubenbrandes an. Der Mann hatte so schwere Verbrennungen erlitten und war so verstümmelt, dass der Arzt keine Hoffnung auf eine Genesung hatte. Er glaubte, dass nur ein Wunder ihn retten könne. Van Gogh kümmerte sich vierzig Tage (es waren wahrscheinlich sogar 60 Tage, H.L.) liebevoll um den Bergmann und rettete sein Leben.«
Es müssen vierzig außergewöhnliche Tage gewesen sein, die sich tief in van Goghs Seele einprägten. Über einen Monat lang war Vincent an der Seite eines Mannes, der so schwere Verbrennungen davongetragen hatte, dass der Arzt für ihn nur einen sicheren und qualvollen Tod voraussah. Dann hatte Vincent eine Vision, die er seinem Freund Gauguin mitteilte und die erklärt, warum diese Episode für ihn so wichtig war.
Gauguin berichtet ganz ausführlich: »Als wir beiden Verrückten in Arles beisammen waren, ständig um schöne Farben ringend, liebte ich besonders Rot; wo konnte man ein perfektes Zinnoberrot bekommen? Er schrieb mit seinem gelben Pinsel an die Wand, die plötzlich violett wurde:
Ich bin heil im Geiste, Ich bin der Heilige Geist
Paul Gauguin
In meinem gelben Zimmer: ein kleines Stillleben in Violett. Zwei klobige, verschlissene, hässliche Schuhe. Es waren Vincents Schuhe. Diese zog er eines schönen Morgens an, als sie noch neu waren, und begab sich auf den Fußmarsch von Holland nach Belgien. Der junge Prediger hatte gerade sein Theologiestudium abgeschlossen, um wie sein Vater Pfarrer zu werden. Er machte sich zu den Bergleuten auf, die er seine Brüder nannte …
Anders als seine klugen holländischen Professoren glaubte Vincent an einen Jesus, der die Armen liebt, und seine ganz von Barmherzigkeit durchdrungene Seele verlangte danach, den Schwachen tröstende Worte zu geben und sich für sie zu opfern, und danach, die Reichen zu bekämpfen. Ganz bestimmt war Vincent schon verrückt.«
»Vincent war schon verrückt« – Gauguin wiederholt dies mehrmals, und die Ironie ist unüberhörbar: Wenn uns doch allen die Gnade einer solchen Verrücktheit zuteilwürde!
Dann berichtet Gauguin über die Explosion in der Grube:
»Chromgelb strömte aus, ein furchtbares feuriges Leuchten … Die Geschöpfe, die in diesem Augenblick umherkrochen … sagten an diesem Tag dem Leben Adieu, nahmen Abschied von ihren Kameraden … einen von ihnen, furchtbar verstümmelt, das Gesicht verbrannt, nahm Vincent auf. ‚Aber‘, sagte der Werksarzt, ‚um diesen Mann ist es geschehen, wenn nicht ein Wunder geschieht …‘«
Gauguin fährt fort: »Vincent glaubte an Wunder, an die mütterliche Fürsorge. Der Verrückte (ganz bestimmt war er verrückt) ließ sich nicht beirren und wachte vierzig Tage lang am Bett des Sterbenden. Unerschütterlich hielt er die Luft von seinen Wunden fern und bezahlte die Arzneimittel. Ein trostreicher Priester (ganz bestimmt war er verrückt). Der Patient begann zu reden. Und die verrückten Anstrengungen brachten einen toten Christen wieder ins Leben zurück.«
Die Narben auf dem Gesicht des Mannes, der durch das Wunder der Zuwendung dem Tod entrissen wurde, sahen für Vincent genauso aus wie die Narben einer Dornenkrone. »Ich hatte«, sagt Vincent, »in der Gegenwart dieses Mannes, der auf seiner Braue mehrere Narben trug, eine Vision der Dornenkrone, eine Vision des wiederauferstandenen Christus.«
An diesem Punkt seines Berichts nimmt Vincent den Pinsel zur Hand und sagt zu Gauguin: »Und ich, Vincent, ich habe den Wiederauferstandenen gemalt.«
Gauguin schließt: »Vincent zog mit seinem gelben Pinsel, der plötzlich violett geworden war, eine Linie und rief aus:
Ich bin der Heilige Geist,
Ich bin heil im Geiste
Ganz bestimmt war dieser Mann verrückt. «
Natürlich ist die Psychoanalyse hier schnell mit einigen therapeutischen Interpretationen zur Hand. Aber psychoanalytische Interpretationen, wie gut ihre relative Wahrheit auch sein mag, gelangen nicht als solche an tiefere »Reiche des menschlichen Unbewussten« wie zum Beispiel das existentielle, das spirituelle und transpersonale. Wenn man aber, wie schon an anderer Stelle dargestellt, innerhalb der Schule der transpersonalen Psychologie nach einer genaueren und umfassenderen Darstellung der tieferen Dimensionen des menschlichen Bewusstseins sucht, findet man eine Fülle zwingender Hinweise darauf, dass der Mensch Zugang zu tieferen Bewusstseinszuständen hat, die weit über die gewöhnlichen ichhaften Modi hinausgehen: ein Spektrum des Bewusstseins.
Aus den oberen Regionen des Spektrums des Bewusstseins, das heißt den höheren Bewusstseinszuständen, berichten Menschen übereinstimmend von einem Gewahrsein, eins mit dem All zu sein, identisch mit dem Geist, ganz im Geist und so weiter. Der Versuch seichterer Psychologien wie zum Beispiel der Psychoanalyse, alle diese höheren Zustände einfach zu pathologisieren, hat eingehenderen Forschungen schlicht nicht standgehalten. Ein ganzes Netz interkultureller Evidenz legt vielmehr klar den Schluss nahe, dass diese tieferen oder höheren Zustände ein Potential sind, das allen Menschen zur Verfügung steht und wodurch das »Christusbewusstsein«, spirituelle Wahrnehmung und Einung, jedem einzelnen von uns zugänglich ist.
Der transpersonale Psychologe würde also sagen, dass, wie auch immer man Vincents Vision sonst noch interpretieren will, alles ganz klar darauf hindeutet, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine echte Vision des radikalen Potentials in uns allen handelte. Diese höheren Zustände und Visionen können gelegentlich zusammen mit pathologischen Erscheinungen oder Neurosen auftreten, doch sind diese Zustände selbst deshalb nicht ihrem Wesen nach pathologisch. Im Gegenteil: Forscher bezeichnen sie immer wieder als Zustände eines außerordentlichen Wohlbefindens. Deshalb war Vincents zentrale Vision höchstwahrscheinlich weder krankhaft noch psychotisch, noch eine Geistesstörung, weshalb sich Gauguin ja auch ständig über diejenigen lustig macht, die so etwas glauben könnten: »Ganz bestimmt war er verrückt.« Dies bedeutet ganz bestimmt nur eines: Er hatte Kontakt zu einer Wirklichkeit, die zu erleben wir uns alle glücklich schätzen müssten.
Wenn van Gogh daher sagte, dass er den wiederauferstandenen Christus gesehen habe, dann meinte er dies genau so, und genau dies sah er sehr wahrscheinlich auch. Deshalb behielt er die Schuhe, in denen er diese Vision erlebte, als staubbedeckte, aber teure Erinnerung bei sich.
Und deshalb liegt die Grundbedeutung dieses Gemäldes von van Gogh – nicht die einzige Bedeutung, aber die grundlegende Bedeutung – in etwas ganz Einfachem: Es sind die Schuhe, in denen Vincent Jesus pflegte, den Jesus in uns allen.
Wilber, Ken: Das Wahre, Schöne, Gute. Geist und Kultur im 3. Jahrtausend, Frankfurt a.M., 2002, S. 186-193
Das Urholon der Kunst
Ohne in irgendeiner Weise die vielen anderen Kontexte vernachlässigen zu wollen, die ein Kunstwerk ausmachen, kann man aus verschiedenen guten Gründen seinen Anfang auf ein Ereignis im Geist und Wesen des Künstlers datieren: Eine innere Wahrnehmung oder Empfindung, einen Impuls, eine Idee, einen Gedanken, eine Vision. Von irgendwo, man weiß nicht genau woher, taucht der schöpferische Impuls auf. Dem gehen zweifellos viele Kontexte voraus, und viele werden noch folgen. Aber beginnen wir hier, mit der ursprünglichen künstlerischen Wahrnehmung, dem ursprünglichen Impuls, und nennen wir dies das Urholon der Kunst.“
Wilber, S. 177 f
Wie sich Forscher über van Goghs Schuhe streiten
Veröffentlicht am 24.10.2009 (Auszüge) Von Uta Baier
Bereits im ersten ausführlichen Text über van Gogh, der 1911 erschien, wurde……erklärt, dass van Gogh mit diesem Bild eine innere Verbindung zwischen dem Gegenstand und der menschlichen Existenz darstellen wollte.
Damit war der Grundton der Betrachtung vorgegeben, und Martin Heidegger hielt 1935 an der Universität Freiburg eine Vorlesung über diese Schuhe, die er „Der Ursprung des Kunstwerkes“ betitelte. Als die Vorlesung 1950 veröffentlicht wurde, begannen andere Philosophen, sie ausführlich zu kommentieren. Denn Heideggers These lautete: Van Gogh hat die Schuhe einer Bauersfrau und damit eine Metapher für ihr Leben gemalt.
Martin Heidegger also erklärt die Schuhe zur dinglichen Verkörperung des Daseins einer Bäuerin. Warum er meint, dass sie einer Bäuerin gehörten, sagt er nicht, schlussfolgert aber „Kunst ist das Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit.
Von solchen philosophischen Denkspielen hält der amerikanische Kunsthistoriker Meyer Schapiro gar nichts.
Mit seinem Text (1968) will er Heidegger zeigen, dass der das Bild nicht verstanden hat. Denn die Schuhe gehörten nach Meinung Meyer Schapiros Vincent selbst und sind deshalb als Selbstporträt des nach Paris Gezogenen zu verstehen. Sie sind also die Schuhe eines Stadtmenschen.
Seitdem haben Philosophen und Kunsthistoriker sich vor allem mit den Texten über die „Schuhe“ beschäftigt. Die Kölner Ein-Bild-Ausstellung lenkt den Blick endlich zurück auf das Gemälde aus dem Van Gogh-Museum in Amsterdam. Denn je tiefer man in den Streit um die Schuhe einsteigt, desto genauer muss man das Bild betrachten, um den eigenen Standpunkt zur Kunst an sich und zu diesen Schuhen im Besonderen fixieren zu können.
Van Gogh jedenfalls wäre über die unendlichen Möglichkeiten, seine „Schuhe“ zu sehen, nicht weiter erstaunt. Einst schrieb er einem Kritiker: „Kurzum, ich entdecke meine Gemälde in Ihrem Artikel wieder, nur besser, als sie sind, reicher, bedeutungsvoller.“
Internet: Vincent Van Gogh: Zwei Schuhe Über Qualität(en) in Kunst und Kunst-Geschichte oder -Wissenschaft – eine kleine Blütenlese
Nach diesen verschiedenen vorrangig phänomenologischen Interpretationsvorschlägen beginnt Schubert als detektivischer ‚Angehöriger der Oberschicht der Sachverständigen‘ (Babich) sein zweites Kapitel, in dem er sich erst einmal die verschiedenen ‚Schuhe‘ van Goghs nach den bekannten Oeuvre-Katalogen zum Vergleich heraussucht, um der ‚Wahrheit‘ näher zu kommen.
Er wählt aber letztlich nur vier der acht aus wie die „Stiefel mit Nägeln“ (Nagelsohle) in Baltimore, das bekanntlich mit „’Vincent“‘ bezeichnet und mit „’87“ datiert ist. Er schließt die Erde-Boden-Perspektive Heideggers hier gleich aus, obwohl die Sohlen-Erlebnisse des phänomenologisch-peripatetischen Hobbywanderers von der gleichen ihren „’Aus-Gang-Tritt“ genommen haben könnten.
Schubert erkennt in dem Orange-Blau gestimmten Bild (man erinnere sich Gauguins Farbgedächtnis) ähnliche Schnürschuhe und Schuhsenkel, die vielleicht noch deutlicher ein G formen. Bei noch etwas genauerer, detektivischer Betrachtung handelt es sich hier um weit hellere, vielleichtstärker ‚abgewetzte‘ Schuhe. Während jeder Sehende auch bei dem stehenden ‚Rechten‘ (bzw. eigentlich einem ‚androgynen Linken‘) die Nagelung noch erkennen kann, scheint das Amsterdamer ‚Doppel‘ keine Nagelsohle zu haben. Schubert identifiziert das Gemälde plausibel mit dem von François Gauzi erwähnten „Paar mit groben Nägeln beschlagener Stiefel“. Nicht nur die Nägel sondern auch die fallende Boden-Wandlinie verbindet eine leider nicht farbig abgebildete, etwas größere Variante in Brüsseler Privatbesitz. Schubert hält es für wahrscheinlich, dass es sich jeweils um verschiedene Schuhe zu unterschiedlichen Zeiten handele. Hier würde man auch gerne wissen, wie viele Paar Schuhe Van Gogh von 1885 bis 1890 besessen und benützt hat. Obwohl der Autor dem Bild auch nur einen ‚Koloritstudiencharakter‘ einräumt, kommt er wieder auf eigentlich literarische Anreger zurück, wie Degas, der 1887 auch bei den gemalten Gebrauchsgegenständen in einem Porträt etwas von dem dargestellten Besitzer (Mann oder Frau) zu vermitteln rät. Das ist eigentlich nichts Neues oder Aussergewöhnliches.
Seite 12f 30.9.2014 Hubert Hosch , Anm. 1