Wassily Kandinsky 1866 – 1944
Wassily Kandinsky ist sicher einer der bedeutensten Künstler der „Klassischen Moderne“, das gilt besonders für die theoretische Entwicklung der modernen Kunst. Ich will daher auch ein Bild von ihm bei meinen „Grünen Quadratbildern“ aufnehmen.
Mir fiel gleich sein Bild „Spitzen im Bogen“ ein. Das Bild hatte ich für meine mündliche Abiturprüfung mit meinem damaligen Kunstlehrer ausgesucht. Ich wollte es mit einem Verkündigungsbild aus der Gotik vergleichen. Leider ist das dann nichts geworden und ich finde das Verkündigungsbild bisher auch nicht wieder.
Ich habe mir das Bild von Kandinsky schon intensiv angeschaut, aber ein abstraktes Bild konkret zu beschreiben und zu interpretieren ist nicht so leicht, auch wenn ich von meinen Bildern her darin eine gewisse Übung habe. Ich glaube aber, dass ich schon einige gute Ansatzpunkte hatte. Als ich dann zu Kandinsky und diesem Bild recherchiert hab, bin ich im Internet auf einen hervorragenden Vortragstext zu diesem Bild gestoßen: Joachim Kahl, „Heitere Lebenskunst mit Wassily Kandinsky“. Er ist Philosoph und hat 2011 zu diesem Bild einen Vortrag im Humanistischen Zentrum in Stuttgart gehalten. Interessant ist auch noch, dass auch ihn dieses Bild in seiner Jugendzeit besonders fasziniert hat und er sich bei seiner Interpretation auf Autoren bezieht, die auch mich beeinflusst haben. Neben der Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ von Kandinsky selbst, vor allem auch die Psychotherapeutin Dr. Dr. Ingrid Riedel, bei der ich vor über 20 Jahren eine Woche Maltherapie gemacht habe. (s. am Ende des Textes von Kahl „Allgemeine Anmerkungen“)
Ich halte seine Interpretation für genial und drucke sie daher auch ganz ab. Anschließend möchte ich auch noch selber einige kleine Akzente dazu beitragen.
Heitere Lebenskunst mit Wassily Kandinsky
Eine philosophische Bildmeditation zu „Spitzen im Bogen“
Ich kenne und liebe das Bild „Spitzen im Bogen“ aus dem Jahre 1927 bereits seit meiner Schulzeit, also seit einem halben Jahrhundert. Es hat mich von Anfang an stark emotional angesprochen. Aber erst vor einiger Zeit habe ich mir die Mühe gemacht, das Bild auch gedanklich zu durchdringen und mir seinen ideellen Gehalt so weit anzueignen, dass ich ihn weiter vermitteln kann als Interpret des großen Künstlers.
Das Bild lässt sich verstehen als eine Antwort Kandinskys auf die Frage nach dem wohlgeratenen, dem wohlgestalteten, dem wohlgebildeten Leben. Es ist ein Sinnbild menschlicher Grundbefindlichkeiten, Schaubild einer geglückten Existenz in Gesundheit und Lebensfreude. Es stellt dar, wie menschliches Leben sich stufenförmig aufbaut, wie es die Kurve kriegt und sich stets seinem Ursprung gegenüber, dem Energiestrom des Lebens, offenhält.
Der erste Eindruck mancher Betrachter des Bildes, die sich an bunte Segel erinnert fühlen, ist gar nicht so abwegig. Es geht in der Tat um die große Lebensfahrt, die Reise auf dem Ozean des Lebens. Meine Aufgabe besteht darin, das in Worte zu fassen, was Kandinsky ohne Worte ausdrückt, was er mit Farben und Formen abstrakt und dennoch sinnlich mitteilt. Ich habe mich lange bemüht, das Bild gründlich anzuschauen, es behutsam zu lesen und zu verstehen, es vorsichtig aufzuschlüsseln, ohne etwas hinein zu lesen, gar hineinzugeheimnissen. Werkgetreu, aber nicht rein werkimmanent soll die Interpretation sein. Sie geht aber über in eine Meditation, die auf das Leben der Betrachtenden bezieht, was im Bild angelegt, angezeigt, angedeutet, angedacht ist.
Wassily Kandinsky war ein europäischer Künstler von Weltrang, ein Meister der klassischen Moderne. Von Geburt Russe mit deutschen und mongolischen Vorfahren, lebte er zunächst in seiner Heimatstadt Moskau, später lange Jahre in und bei München, in Weimar und Dessau, schließlich in Neuilly-sur-Seine bei Paris. Als gebildeter Intellektueller aus dem russischen Bürgertum sprach er fließend Deutsch und Französisch. Es gelang ihm jeweils, die Staatsbürgerschaften seiner beiden Gastländer zu erwerben.
Unser Bild „Spitzen im Bogen“, 1927 gemalt, entstammt seiner Zeit am „Staatlichen Bauhaus“, wo er als Hochschullehrer Kunst- und Architekturstudenten unterrichtete. Er wohnte Wand an Wand mit seinem alten Freund Paul Klee, der ebenfalls von Walter Gropius ans Bauhaus berufen worden war. Kandinsky arbeitete gern an dieser praxisorientierten Ausbildungsstätte, deren stellvertretender Direktor er später wurde. Seiner Programmatik nach wollte das Bauhaus die Künste mit der industriellen Zivilisation versöhnen und die Künstler aus ihrer Weltfremdheit heraus führen. Kandinsky hatte ohnehin nie den snobistischen Standpunkt des „l’art pour l’art“ vertreten.1 Kunst war für ihn auch keine eitle Selbstdarstellung einer nur sich selbst verpflichteten Künstlerpersönlichkeit.
Kunst sollte, wie er es selbst formulierte, dem „Pulsschlag des Lebens“ 2 nachspüren, den „inneren Klang“ 3 der Dinge heraushören und die elementaren, verborgenen Gesetzte von Mensch und Natur aufzeigen, und zwar in ihren kosmischen Dimensionen. Kunst vermittelt eine Botschaft, Künstler reichen „geistiges Brot“ 4 , meinte Kandinsky. Welche Botschaft vermittelt das Bild? Wie schmeckt das Brot, das Kandinsky uns reicht?
Lassen wir zunächst das Bild als Ganzes auf uns wirken, bevor wir uns sodann in seine Einzelheiten vertiefen. Das Bild strahlt Ruhe und Gleichgewicht aus. Seine Komposition ist wohldurchdacht, seine Farben sind wohltemperiert, seine Formen wohlproportioniert. Es hat den Charme souveräner Heiterkeit und nobler Schönheit. Gegenüber der Geschwätzigkeit des Alltags vermittelt es ein Gefühl der Stille. Es lässt erahnen, wie ein konstruktives, aufbauendes Herangehen an Probleme und ein gute Ordnung der Dinge aussehen könnte.
Auf dem Bild sind die Gewichte im Lot, ohne dass der Eindruck entstände, hier würde unkritisch eine heile Welt vorgegaukelt: eine Welt, die von den Abgründen menschlicher Existenz, von ihrer Tragik, ihren Katastrophen nichts wüsste. Wer dies dächte, übersiehe den dunklen, grünlich schwarzen Hintergrund, vor dem sich die leuchtenden Gebilde erheben.
Damit habe ich soeben mit einer ersten hinführenden Beschreibung des Bildes begonnen. Auf einem dunklen, schwarzgrünen Untergrund bauen sich drei Figurenkombinationen, drei Figurenensembles auf:
- einmal die Titel gebenden „Spitzen im Bogen“, die leitmotivischen Dreiecke im offenen Halbkreis, die sich von links unten nach links oben empor schwingen,
- zweitens, als ihr ständiges Gegenüber, die – höchst vorläufig so bezeichneten – „Was- serhäuschen“ auf blauen Wellen, aus denen heiter gefärbte Blasen und Bläschen hervor quellen, nach rechts oben driften und so eine Gegenbewegung zu der streng geo-metrischen Architektur des Bogens bilden,
- drittens, die beiden großen Kreise diesseits und jenseits, innerhalb und außerhalb des Bogens.
Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, dass der Bogen sich nicht nur aus Dreiecken zusammensetzt, sondern auch aus anderen geometrischen Formen: aus Quadraten, aus Kreisen und Halbkreisen, sowie aus länglichen, waagerechten Rechtecken, die wie Balken aussehen. Dabei fällt vor allem der hellbraune Balken ins Auge, der als eine Art Mittelschiene den Bogen halbiert und ihm eine gewisse Festigkeit verleiht.
Alle diese Formen sind so angeordnet, dass sie einander nicht nur berühren, sondern überlappen, überlagern, überschneiden. Dadurch entsteht der Eindruck der Bewegung, der Entwicklung, und zwar in einer aufsteigenden Linie. Sie beginnt links unten bei dem kleinsten Dreieck, schwingt dann sanft nach rechts, steigt steil nach oben an und biegt wieder nach links ab. Indem Kandinsky die Formen sich überlappen lässt, verwandelt er geschickt ihr räumliches Nebeneinander in ein zeitliches Nacheinander. So gelingt ihm, etwas gänzlich Unanschauliches anschaulich zu machen: die Zeit.
Hat sich der Bogen langsam und stetig, Stufe um Stufe, aufgebaut, gelangt seine Dynamik schließlich oben zum Stillstand. Wie ein Prellbock stemmt sich von links eine Dreiecksformation gegen die Hauptrichtung der Bewegung, bremst sie ab und beendet sie. Dabei ist die Einzelheit bedeutungsvoll, dass die leuchtend gelben Schlussdreiecke sich nicht auf einer waagerechten Linie befinden, sondern auf einer sanft abschüssigen Linie. Die Bewegung neigt sich langsam ihrem Ende entgegen und klingt sachte aus. Mehr noch als durch die Formen wird die innere Richtung der Entwicklung durch die Farben verdeutlicht. Wir erkennen ein stetes Erwärmen des Farbklimas von unten nach oben. Es beginnt mit den kühlen Farben Hellblau, Violett, Grün und steigt dann, vermittelt über erdiges Braun, empor zu den warmen Farben Rot und Gelb. Am Schluss steht sattes goldenes Gelb als Farbe der Ernte und Reife.
Der besondere geistige Reiz des Bogens aus elementaren euklidischen Formen und in harmonischen Farben ist nun der, dass es sich dabei nicht um ein inhaltsloses spielerisches Experiment, um eine selbstgenügsame dekorative Studie handelt, sondern um ein Gleichnis des menschlichen Lebens, um ein Leitbild dessen, was ein menschenwürdiges, ein lebenswertes Leben ausmacht. Ich interpretiere den Bogen als Spannungsbogen unseres Lebens. Ich lese das Kunstwerk insgesamt als Wunschbiographie, als normativen Lebensentwurf, als Modell eines möglichen Lebens. Es hilft uns, die Koordinaten unseres eigenen Lebens zu erkennen: uns darin zu finden, uns zu korrigieren, uns anzunehmen.
Das menschliche Leben ist keine geradewegs aufsteigende Linie, auch kein geschlossener Kreis, sondern eine offene Kurve. Diese Kurve setzt sich zusammen aus einfachen Bauelementen, Bestandteilen, die sich wiederholen und doch voneinander unterscheiden. So ist bei allen Dreiecken zwar die Winkelsumme 180 Grad, aber keins ist dem anderen deckungsgleich. Viele wichtige und unwichtige Vorgänge des Lebens wiederholen sich ständig – in der einen oder anderen Form. Täglich müssen wir aufstehen, täglich müssen wir uns schlafen legen. Täglich müssen wir uns die Zähne putzen, regelmäßig Nahrung aufnehmen, verdauen und die Reste wieder ausscheiden. Jeden Tag müssen wir arbeiten und ruhen, jeden Tag zuhören und sprechen und so weiter. Vor allem müssen wir jede Sekunde atmen, einatmen und ausatmen. In allem erschöpft sich das Leben nicht, aber darauf baut es unabdingbar auf. Es wiederholen sich nicht nur äußere Vorgänge, es kehren auch bestimmte Themen, Motive, Probleme in bestimmten Abschnitten wieder, werden neu durchdacht, neu durchlebt, neu arrangiert, vielleicht neu bewältigt. Dank dieser Wiederkehr entstehen Chancen für Neuanfänge, die freilich Geschehenes nicht ungeschehen machen, Versäumtes nicht wiederbringen können. Denn die Zeit ist ja inzwischen nicht stehen geblieben. Das Leben ist unaufhaltsam und unumkehrbar weitergegangen. Insofern verschränken sich stets lineare und zyklische Prozesse, wie es Kandinsky mit seiner offenen Kurve anschaulich zeigt.
Das Leben hat nicht nur einen klaren Anfangs- und Endpunkt, sondern auch Stufen und Stationen, Ebenen und Etappen, die auf einander aufbauen, aneinander anschließen. Es fließt nicht dahin, wie ein gestaltloser Brei, sondern es hat einen Rhythmus. Alles hat seine Zeit, seinen Ort, seine Farbe, seine Form, seine innere Logik, seine Reihenfolge. Insofern zeugt es von Unreife, alles sofort, alles gleichzeitig oder überhaupt alles haben zu wollen.
Zum Rhythmus des Lebens gehört nicht nur kraftvolles Vorwärtsstreben – dargestellt in den nach oben gerichteten Dreiecken –, sondern auch Ruhe und Muße, dargestellt in den balkenartigen Ebenen, Plattformen. Sie laden geradezu ein zum Innehalten, zur Besinnung. Soll Leben nicht zur Betriebsamkeit, gar zum Leerlauf entarten, bedarf es regelmäßiger Besinnung auf sich selbst, auf die Ursprünge, denen sich die die Balken entgegen recken – dargestellt im zweiten Figurenensemble: in den schwebenden Häusern des Ursprungs, die die auf den Wellen reiten. Leben blüht auf, wenn es sich nicht abkapselt, nicht einigelt, sondern sich öffnet, so wie der Bogen sich öffnet. Er hält sich an jedem Punkt offen für den sprudelnden Strom des Seins, der jeder individuellen Existenz vorgelagert ist. In aller Schlichtheit erinnern die blau-grünen Wellen an fließendes Wasser, das von alters her als Ursprung des Lebens und als Sinnbild steten Wandels gilt. An beide Bedeutungen, die in der griechischen und in der ostasiatischen Philosophie vorgeprägt sind, knüpft Kandinskys Bild an.
Gerade ein vernunftgeleiteter Lebensentwurf, wie er in dem exakt ausgerichteten Bogen aus Dreiecken und Rechtecken vorliegt, braucht den Wellenschlag des Organischen, braucht die Verwurzelung in den feuchten, vegetativen und animalischen Ursprüngen. Sie verleihen dem Leben Saft und Kraft und bewahren es vor einem rationalistischen Austrocknen. So können wir die blauen Wellen auch als Schwingungen verstehen, als pulsierende Formen geistiger und körperlicher Energie. Die aus den Wellen aufsteigenden bunten Blasen und Bläschen erinnern an den Vorgang des Verdunstens und Kondensierens und damit an den Wasserkreislauf. Sie durchdringen die eckigen Formen des Bogens und lockern seine fest gefügte Konstruktion auf. Sie schaffen Atmosphäre und verleihen dem Bild als Ganzem einen Hauch heiterer Poesie.
Im unendlichen Ozean des Seins ist das menschliche Leben nur eine kleine Woge. Auch darauf verweisen – piktogrammartig – die blaugrünen Wellen. Alles Einzelne entsteht und vergeht. Alles Einzelne leuchtet kurz auf und taucht dann wieder ein ins Dunkel. Alles Lebendige ist ein Fragment, dessen Anfang und Ende ihm unverfügbar vorgegeben sind. Niemand kann sich selbst das Leben geben, seine eigene Geburt herbeiführen. Niemand kann sein Altern und seinen Tod aufhalten oder gar verhindern. Deshalb sind die Häuser des Ursprungs mit ihren Wellen dem Lebensbogen vorgelagert. Deshalb flacht der offene Halbkreis unaufhaltsam ab, nachdem er sich stufenförmig aufgebaut hat. Deshalb ragen die drei roten Fühler oben links ins Dunkel hinaus, verströmen ihre Lebenskraft und verglühen.
Mit einem anspruchsvollen philosophischen Begriff gesagt: Kandinsky verbildlicht die Kontingenz des menschlichen Daseins. Diesem Menschenbild und diesem Lebensgefühl fehlt alles Maßlose, alles Verschwenderische, alles Gewalttätige, das die technische Zivilisation unseres Zeitalters vielfach kennzeichnet. Dieser offene Halbkreis verklärt nicht ein immerwährendes Wachstum, preist nicht eine unersättliche Jagd nach immer mehr und immer Größerem. Dieser Bogen sagt Ja zum Leben in seiner Sterblichkeit, Ja zum Glück in seiner Vergänglichkeit. Dieser Bogen versöhnt Selbstbehauptung und Selbstbescheidung. Eine Ewigkeit waren wir nicht. Eine Ewigkeit werden wir nicht mehr sein. Die winzige Zeitspanne dazwischen, das ist unser Leben. Es kehrt am Ende in das Nichtsein zurück, aus dem es hervorgegangen ist.
Werfen wir einen vertiefenden Blick in das innere Gefüge des Bogens! Spüren wir dem Raffinement der Kandinskyschen Kunst nach, inwieweit sie menschliche Lebenskunst zu beflügeln vermag. Schauen wir zunächst auf die Dreiecke. Alle Dreiecke weisen mit der Spitze nach oben – gleichviel, welche Farbe sie tragen, gleichviel, wie spitz oder stumpf ihre Winkel sind. Ihre Basislinien sind mehrheitlich waagerecht. Das heißt: die Dreiecke verbinden Bodenhaftung und Zielstrebigkeit. Mit den unteren Linien berühren sie gleichsam den Erdboden, mit der Spitze weisen sie über sich selbst hinaus. Sie bleiben auf dem Teppich und streben doch nach Höherem. Insofern vereinen sie Realitätsbewusstsein und Orientierung an neuen Möglichkeiten. Sie halten die heikle Balance zwischen Statik und Dynamik, zwischen Beharrung und Bewegung. Eben deshalb sind sie auch – unter allen geometrischen Elementarformen – besonders gut geeignet, bestimmte Züge des menschlichen Wesens normativ aufzuzeigen. Duckmäusertum strahlen sie jedenfalls nicht aus, vielmehr praktizieren sie den aufrechten Gang.
Die tragende Rolle der waagerechten Rechtecke, die wie Balken wirken, habe ich bereits angesprochen. Kein Mensch kann immer nur regsam-strebsam wie ein Dreieck die Nase vorn und den Kopf oben haben, ruhelos Entschlossenheit und Tatkraft beweisen. Jeder Mensch braucht unabdingbar hierzu einen Gegenpol in seinem Leben: Raum und Zeit zum Schlafen, zum Spielen, zum Feiern, zur Muße, zur Beschaulichkeit. Auf allen Stufen, ja an allen Tagen bedarf menschliches Leben einer Ebene des Verweilens, des Pausierens, des Entspannens. Ohne sie können kein Wohlbefinden und keine Weisheit gedeihen. Ohne sie treiben Menschen Raubbau mit ihren Kräften, überfordern sie sich, verausgaben sich, laugen aus, brennen aus. Ohne reflexive Pausen können wir unsere Erlebnisse nicht zu Erfahrungen verarbeiten.
Die Balken, die sich wie Fühler den Häusern des Ursprungs entgegenstrecken, signalisieren uns: Arbeit, Leistung, Pflicht, so unverzichtbar sie sind, sie sind nicht alles. Sie können zur Sucht, zur Droge werden. Jede produktive Arbeit erfordert, dass Kräfte sich erneuern, Energien sich regenerieren können. Was bedeuten die auffälligen Mosaiken innerhalb der Balken und Dreiecke, unverkennbar inspiriert von Paul Klee, der eine charakteristische Bildersprache der Streifen und Gitter, der Raster und Fugen entwickelt hatte? Die Mosaiken sind kleinformatig, aber alles andere als kleinkariert. In ihnen kehren alle Farben wieder, die auch sonst den Bogen prägen. Das will sagen: es geschieht nichts Anderes, als was sonst auch geschieht, aber es geschieht verdichtet.
Die Mosaiken stehen für Abschnitte, für Bereiche besonders intensiven und konzentrierten Lebens. Es gibt Tage, Stunden, Minuten, die enthalten mehr als sonst Jahre und Monate. Es gibt Zeiten, da plätschert das Leben dahin, und es gibt Zeiten, da verdichtet es sich, da ballt es sich zusammen. Gottfried Keller hat diesen Sachverhalt einmal so in Worte gekleidet:
Ein Tag kann eine Perle sein und ein Jahrhundert nichts.
Gottfried Keller
Das Kleinformatige lässt an beglückende Begegnungen denken, an stille Stunden, an vertrauliche Gespräche, auch an Selbstgespräche. Sie tragen ihren Sinn in sich selbst, bewahren uns vor innerer Verhärtung, wappnen uns gegen die Stürme des Lebens. Die Mosaiken sind Reservate der Innerlichkeit. Sie bejahen das Recht auf Rückzug ins Private, das Recht auf Idylle. Sie versinnbildlichen das Glück des erfüllten Augenblicks mit Rotwein und leiser Musik, mit Tee und Gedichten.
Um seine Botschaft auszudrücken, bedient sich Kandinsky nicht nur der Sprache der Formen, sondern auch – gleichrangig – der Sprache der Farben. Dieses klassische Mittel der Malerei lebt davon, dass Farben unmittelbar auf das Gefühl wirken. Als sinnliche Energien, die den Gesichtssinn, kurz: die Augen, erregen, erzeugen sie einen eine bestimmte Gemütswirkung, lassen sie die „Seele vibrieren“, wie Kandinsky gerne sagt. 5 Farben haben einen Gefühls- und Ausdruckswert. Seit alters her sind ihnen symbolische Bedeutungen zugeordnet, die zwar nach Völkern und Zeiten durchaus schwanken, aber immer wieder Künstler, Psychologen und Philosophen zur Analyse herausgefordert haben. Heute beschäftigen sich auch Pädagogen, Werbefachleute und Raumausstatter mit der Wirkung von Farben.
Kandinsky war beeinflusst von der Farbenlehre Johann Wolfgangs von Goethe, der die Farbe als ein „elementares Naturphänomen“ begriff und ihr eine „sinnlich-sittliche Wirkung“ zuschrieb. 6 Welchen Sinnzusammenhang stellt Kandinsky durch die Farbwahl her, welche Gemütswirkung erzielt er? Ich greife die wichtigsten Farben heraus und beginne dort, wo der Bogen beginnt: mit dem kleinen hellblauen Dreieck links unten. Das Hellblau dieses kleinsten aller Dreiecke verbindet die Geburt des Bogens mit den Häusern des Ursprungs. Wir müssen nicht konkretistisch an Fruchtwasser denken, aber die Assoziation des Wässrigen, Feuchten, aus dem Lebendiges hervorgeht, ist nicht abwegig. Dem eher unscheinbaren Auftakt steht ein eindrucksvoller Schlussakkord gegenüber. Das leuchtende Gelb, durchsetzt mit vitalem Rot, steht für Ernte, Reife, Sonnenuntergang. Hier klingt ein Leben aus, das wirklich gelebt wurde. Kandinsky entwirft ein begeisterndes Wunschbild des Alterns. Der Lebensabend muss nicht mit Alterstarrsinn, Altersgeiz, Alterstrübsal durchsetzt sein. Alte Menschen müssen nicht zum „alten Eisen“ gehören oder auf dem Abstellgleis stehen. Ob sie dorthin abgeschoben werden oder sich dorthin abschieben lassen, entscheidet sich freilich schon früher. Wesentlich ist, welches Leben sie vorher gelebt haben: ob sie nun abgelebt sind oder ob es ihnen gelungen ist, Glut unter der Asche zu bewahren. Die leuchtenden Farben besagen freilich nicht nur etwas für das Alter, sondern auch für das Sterben. Wie die Geburt wird auch das Sterben als ein natürlicher, und insofern gesunder Vorgang betrachtet, der zur großen Weltordnung sinnvoll dazugehört – trotz aller pathologischen Begleitumstände, die oft genug Anfang und Ende des Lebens qualvoll begleiten.
Das grüne Dreieck steht für die Zeit der Jugend, für den Frühling des Lebens. Die grüne Farbe lebt in ihrem symbolischen Gehalt vom Blattgrün, vom Chlorophyll der natürlichen Vegetation. Alles ist noch unreif, eben grün, aber groß im Kommen, voller Hoffnung. Der Regenbogen rechts unten in der Ecke dieses Dreiecks verstärkt den freudigen Eindruck. Mit seinem Spektrum deutet dieses Menschheitssymbol an, dass die bunte Schönheit der Welt und die farbige Faszination des Lebens bereits wahrgenommen werden. Wie die Wellen des Wassers ist der Regenbogen ein gegenständliches Element in einer abstrakten Gesamtkomposition. Dieser Sachverhalt vermag nur denjenigen zu verblüffen, der nicht Kandinskys undogmatisches Verständnis von Abstraktion und Realistik kennt. Eine Kombination von gegenständlichen und nichtgegenständlichen Formen hat er durchaus bejaht 7 und, wie wir sehen, praktiziert. Auf unserem Bild nimmt so eine philosophische Elementarkenntnis Gestalt an: Es kann vom Menschen nicht sinnvoll gesprochen werden ohne erinnernden und zitierenden Rückgriff auf Natur.
Auf die Jugendzeit, die mit Ausbildung und Suche nach Orientierungen aller Art ausgefüllt ist, folgt die Etablierung im Leben – in Gestalt eines purpurroten Rechtecks, das fast mit einem Quadrat verwechselt werden könnte. Ein Fundament wird gelegt, eine Existenz wird gegründet. Im Unterschied zum Dreieck ist dieses fast quadratische Rechteck eine ganz ruhige, statische, und dynamische Figur. Es lädt ein, sich dort niederzulassen und auszuruhen. Mit seinem behäbigen Maß drückt es das legitime Bedürfnis nach Abgrenzung aus. Ein eigener Bereich wird behauptet. Durch kantige Abgrenzung nach allen vier Himmelsrichtungen versinnbildlicht es Selbstbehauptung und Selbstfindung.
Wer zu sich selbst und wer zu etwas kommen will, wer sein eigenes Leben leben will, darf sich nicht unterbuttern lassen, muss sich davor schützen, vereinnahmt, gar verheizt zu werden, muss sich durchzusetzen wissen. Ein klotziges Rechteck drückt dieses Interesse vorzüglich aus, zumal, wenn es purpurrot angemalt ist. Denn Rot ist die universelle Farbe der Vitalität und Aggressivität. Rot steht für geistige und körperliche Energie, für Leidenschaft und Standfestigkeit – Qualitäten, die nicht mit Rücksichtslosigkeit verwechselt werden dürfen, sondern durchaus mit Anpassungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft vereinbar sind. Haben Sie bemerkt, dass Kandinskys Bild nicht nur dieses eine große Rechteck enthält? Auch die zweite Lebenshälfte hat das ihre, und zwar fast an der gleichen Stelle nahezu senkrecht darüber, ohne dass damit eine spiegelbildliche Entsprechung konstruiert werden soll. Was ist inzwischen geschehen? Das Rechteck oben ist in die Jahre gekommen, vom Leben gezeichnet, zerzaust, angeschlagen, nicht mehr so schön und glatt, dafür erfahrener, reifer. „Der Lack ist ab“, würde man umgangssprachlich sagen. Mehrere Farben und Formen überlagern sich. Das obere Rechteck ist eine Figur mit vielen Einsprengseln: mit Fenstern und Türen und Bullaugen. Sie lassen viel herein und viel heraus. Das Leben hat an Komplexität gewonnen. Seine Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit werden bewusst wahrgenommen. Die Welt wird in ihren Zwischentönen und Übergängen erkannt. Als eine wesentliche Dimension tritt die Erinnerung verstärkt hervor, ohne dass ein Sich Klammern an Vergangenes angedeutet würde.
Als letzte Farbe möchte ich das lehmige Braun ansprechen, dessen Auftrag ausgesprochen pastos wirkt. Es findet sich nicht nur vielfältig im Bogen, sondern auch in den Häusern des Ursprungs. Vor allem das rechtwinklige Dreieck, das sich bedeutungsvoll über das purpurrote Rechteck schiebt, ist fast ganz in Braun gehalten. Braun ist die Farbe der Erde und der Exkremente, des Staubs und des Sterbens. Es drückt Erdverbundenheit, ja Erdverfallenheit aus. Wir Menschen sind Kinder des Planeten Erde. Unsere Heimat ist ein Staubkorn im Weltall. Als Farbe des Kots und des Sterbens erinnert uns das Braun an den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, aus dem sich das Leben aufbaut und wieder abbaut, so dass unser Sterben nicht erst am Ende einsetzt, sondern mit dem Leben selbst anhebt.
Mit seinem Bild „Spitzen im Bogen“ aus dem Jahre 1927 hat Wassily Kandinsky ein Kunstwerk der Meisterklasse geschaffen. Nicht alle seine Arbeiten erreichen diese hohe Malkultur, diese Vollendung der Komposition, diese Wucht der Aussage. Äußere und innere Schönheit durchdringen sich. Das Gemälde spricht uns an, weil es in beiden Gehirnhälften verwurzelt ist und insofern die beiden menschlichen Hauptsprachen spricht: die Sprache des Verstandes und die Sprache des Gefühls. Sie klingen zusammen und ergreifen uns in der Tiefe. Kandinskys Kunstwerk trifft sich darin mit einer Einsicht des französischen Philosophen und Mathematikers Blaise Pascal, der gesagt hat: die Menschen brauchen beides, den „Geist der Geometrie“ und den „Geist des Feingefühls“, „l’esprit de géometrie“ und „l’esprit de finesse“, den Geist der Genauigkeit und den Geist der Phantasie. Wer sie in sich ausbildet und schult, der ist eher gefeit gegen manche Verirrung unserer Zeit. Er oder sie wird nicht so leicht dem Obskurantismus und Irrationalismus einerseits und dem technokratischen Machbarkeitswahn andererseits verfallen.
Das Bild lädt uns ein, mit offenen Augen nachzudenken und zu meditieren. Es bietet uns ein faszinierendes Modell positiven Denkens und Fühlens. Es fordert nicht, es klagt nicht, es tadelt nicht, es eifert nicht. Es zeigt schlicht, was menschliches Leben ist und was es sein kann:
- ein zerbrechliches Gebilde in Schönheit und Würde,
- voll Leichtigkeit bei aller Erdenschwere,
- der Zeit und dem Zufall unterworfen,
- dem Tod von Anfang an verfallen,
- schwebend im schwarzen, schweigenden Weltall.
In weiser Resignation macht es Mut zur Fülle des Daseins: zu einem guten Leben und zu einem guten Sterben. Das Bild strahlt erhabene Heiterkeit und hintergründiges Pathos aus. In einer labyrinthisch anmutenden Welt vermittelt es den Geist der Klarheit. Einer Gesellschaft, die leicht aus den Fugen gerät, zeigt es die Umrisse einer wohlgefügten Ordnung. In einer Zeit, in der vieles zerfällt, stellt es feste Strukturen vor, an denen wir uns orientieren können. Einer Jugend, die heranwächst in einem Klima der Verwilderung und Verwahrlosung, führt es das Modell eines Lebens vor Augen, das aus gutem Grund an verbindlichen Formen festhält. Der Wille zur Form ist Bedingung der Schönheit. Der Wille zur Form ist Bedingung der Freundlichkeit im Umgang miteinander.
Kandinskys Bild präsentiert uns das menschliche Leben als Weg, als inneren und äußeren Weg, der stufenweise zur Selbstverwirklichung führen kann, sofern es gelingt, Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung miteinander zu verbinden.
Werfen wir spätestens jetzt einen gezielten Blick auf den letzten wesentlichen Bildbestandteil: die beiden auffälligen großen Kreise, die noch ungedeutet im Raume schweben und der gesamten Komposition eine zusätzliche Tiefendimension verleihen. Mein Deutungsvorschlag lautet: Die zwei Kreise, die links und rechts den Bogen flankieren, stellen den inneren und den äußeren Kosmos, die Innen- und die Außenwelt des Menschen dar. Sie zeigen an: Die menschliche Existenz lässt sich nicht individualistisch, nicht isoliert, nicht rein aus sich selbst verstehen. Vielmehr ist der Mensch Teil eines übergreifenden Ganzen, eines materiellen und eines geistigen Kosmos. Die beiden Kreise, zwischen denen und in deren Kraftfeld sich der Bogen aufbaut, stellen optisch-sinnlich dar, was Kandinsky wiederholt auch in seinen theoretischen Schriften ausgeführt hat. Der Mensch ist ein Wesen, das nur in einem kosmischen, einem universellen Zusammenhang zu begreifen ist. 8 Der Kreis zählt zu seinen geometrischen Lieblingsfiguren – namentlich während seiner Bauhauszeit. Einem alten Symbolverständnis folgend, sah er in dieser Elementarform ein Sinnbild des Unendlichen, Ewigen, Absoluten. 9 Denn ein Kreis besteht aus einer endlosen Linie, die stets an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt und dort von neuem beginnt. Ein Kreis ist also bei Kandinsky in der Regel mehr als ein ornamentales oder kompositorisches Element. Ein Kreis verweist bei ihm auf die metaphysische Dimension der Wirklichkeit, auf die Dimension des Ewigen, Unendlichen, Absoluten. An ihr hat der Mensch teil, solange er lebt. Sie bleibt ihm aber unverfügbar, wie bereits die Häuser des Ursprungs mit ihren Wellen und Blasen erkennen ließen. An den Häusern des Ursprungs wird auch ablesbar, dass Kandinskys Metaphysik nicht an einen personalgöttlichen Schöpfungsakt in einem jüdisch-christlichen Sinne denkt, sondern an ein fortwährendes Ursprungsgeschehen im Stoffwechsel Mensch – Natur.
Merkwürdig bleibt das Größenverhältnis zwischen beiden Kreisen. Es wäre misslich, von Mikro- und von Makrokosmos zu sprechen. Denn der größere Kreis mit seinem kräftigen Blau steht für die Tiefen des Gemüts, während der kleinere rote Kreis mit seinem grünen Kranz die Assoziation von Sonne und Natur weckt. Das kräftige Blau ist das tiefe Blau des „blauen Reiters“ aus Kandinskys Anfängen, als er noch mit Franz Marc nach einer spirituellen Läuterung und mystischen Vertiefung der Malerei, der Künste allgemein suchte. Mochte damals durchaus eine Flucht in die Innerlichkeit und ein Rückzug aus der Welt des Äußerlichen, Gegenständlichen angelegt gewesen sein. Der reife Kandinsky unseres Bildes hat diese Einseitigkeit längst abgelegt und ist zu einem Vertreter der „Synthese“, des vermittelnden „Und“ 10, des polaren Miteinander von Geistigem und Materiellem geworden. In der Tat: menschliches Leben, das zur Ganzheit strebt, braucht seelischen und geistigen Tiefgang und den weiten Horizont globaler, ja kosmischer Zusammenhänge.
Kandinskys Bild „Spitzen im Bogen“ ist ein farbiger Bilderbogen voll Anmut und Ernsthaftigkeit, ein Kaleidoskop gelingenden Lebens: leichthändig, nicht leichtfertig, leichtfüßig und doch erdverbunden. Kandinskys Liebe zur Geometrie verbindet maßvolle Strenge mit spielerischer Phantasie. Es verschmelzen die Rhythmen des organischen Lebens mit der Idee eines rationalen Lebensplanes.
Das Bild nimmt auf kein konkretes Zeitereignis Bezug. Grauen und Gräuel unsere Epoche sind ausgespart. Und doch entlässt es uns nicht in ästhetizistischer Unverbindlichkeit und geistiger Orientierungslosigkeit. Vom Wirrsal der Zeitäufte unberührt, hat es die Aktualität und Aussagekraft des Klassischen. In der universalen Formensprache der Geometrie entwirft es ein weltbürgerliches Humanitätsideal, in dem Ethik und Ästhetik zusammenspielen. Beide Geschlechter und alle Altersstufen können sich darin wiederfinden und daraus schöpfen.
Raffinement und Robustheit dieser weltlichen Ikone lassen die Seele „vibrieren“ und verleihen nahezu jedem Ort einen nicht alltäglichen Glanz.
Anmerkungen:
1 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern, o. J.,10. Aufl. 25, 134.
2 Derselbe, Essays ‚ ber Kunst und Künstler, Bern, 1973, 3. Aufl., 145
3 Derselbe, Über das Geistige in der Kunst, 60.
4 Ebendort, 30.
5 Ebendort, 46, 61, 64, 76, 104, 119, 132, 137.
6 Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe) Band XIII, Hamburg, 1962, 4. Aufl., 324, 494.
7 Wassily Kandinsky, Essay ‚Über Kunst und Künstler, 40f., 208.
8 Derselbe, Über das Geistige in der Kunst, 94.
9 Ebendort, 103.
10 Wassily Kandinsky, Essays über Kunst und Künstler, 97 -108. Aufsatz mit dem Titel „Und“, sowie 71/72, 163, 199, 227.
Allgemeiner Hinweis. Die entscheidenden Einsichten zum Verständnis abstrakter Kunst verdanke ich Heinrich Lützeler, Abstrakte Malerei. Bedeutung und Grenze, Gütersloh, o. J. Wichtige Erkenntnisse zum Wesen von Farben und Formen erschlossen mir zwei Bücher von Ingrid Riedel, Formen. Kreis, Kreuz, Dreieck, Quadrat, Spirale (Buchreihe Symbole), Stuttgart, 1986, 2. Aufl.; dieselbe, Farben. In Religion, Gesellschaft, Kunst und Psychotherapie (Buchreihe Symbole), Stuttgart, 1991, 9. Aufl.
Vorgetragen im Humanistischen Zentrum Stuttgart November 2011
Der Text des Philosophen Joachim Kahl findet mehr als meine volle Zustimmung, er begeistert mich. Er ist dem Bilde kongenial. Wenn ich dennoch einige eigene Bemerkungen dazu mache, dann ist das in keiner Weise Kritik. Es sind einige ergänzende Aspekte aus meinem Hintergrund. Kein Kunstwerk ist mit Worten ausschöpfbar und ein – wenn auch in meinen Auge nur kleinen Teil – trägt ja auch die Erfahrung des Betrachters zum Kunstwerk bei.
Auch ich habe das Bild von Anfang an als eine Darstellung des Lebensweges gesehen, eines Lebensweges, der ideal verlaufen ist. Die beiden Gestirne interpretiere ich allerdings etwas abweichend. Das kleinere Gestirn im oberen rechten Quadraten ist dort, wo Kinder meistens die Sonne malen. In der psychischen Geographie eines Bildes geht der Lebensweg – wenn er positiv verläuft – von unten links nach oben rechts, wie es in unserem Bilde ja auch der Fall ist. Das hoffnungsvolle grün umschließt den roten Mittelpunkt und nimmt die bestimmenden Farben des unteren Drittels des Weges auf. Das rote Dreieck, das von dem braunen Balken, der in etwas das Bild in zwei Hälften teilt, ausgeht, ragt mit seiner Spitze bis an dieses Gestirn heran. Der im unteren Drittel des Bildes im großen grünen Dreieck erscheinende Ausschnitt eines Kreisviertels und die halben Kreise in diesem Bereich, die zum Teil auch als Regenbogen gedeutet werden können (Kahl), könnten schon auf ihre Vervollständigung im oberen Kreis hoffnungsvoll als Vollendung ausgerichtet sein. Für mich ist dieses Gestirn der Ausdruck des erfolgreich vollendeten äußeren Lebensweges.
Mit dem äußeren Lebensweg ist der Mensch aber noch nicht an sein endgültiges Ziel angekommen. Seine Vollendung findet er in der Selbstwerdung im „Göttlichen“. Der obere linke Quadrant ist der Bereich des Zur-Ruhe-Kommens in der Meditation oder im Transzendenten. (s. Ken Wilber) Und hier kommt das beherrschende große blaue Gestirn ins Spiel. Es steht auch für mich für das „Göttliche“ und das Ewige. Wobei „göttlich“ einer Erklärung bedarf. Wir erfahren das „Göttliche“ als Einheit von Sein und Bewusstsein – unserem Verstand aber nicht unmittelbar zugänglich – und auch unser eigentliches Selbst ist als Sein und Bewusstsein mit diesem ewigen Sein und Bewusstsein eins. Diese Erfahrung wird in unserer abendländischen Tradition dadurch verfälscht, dass wir diese Wirklichkeit auf eine persönliches (persönlich im Sinne unserer Erfahrung mit unserm menschlichen Selbst) Wese projizieren, das unendlich weit entfernt ist. Wenn mit Atheismus die Ablehnung dieser Projektion gemeint ist, kann ich dem zustimmen (Joachim Kahl bezeichnet sich als Atheist).
Das große Ensemble von Dreiecken mit der Leiste von farbigen Qudraten und Rechtecken (sie erinnern an Container) direkt oberhalb des blauen Gestirns, könnte die Ernte sein, die dieser individuelle Mensch mit seinem Lebensweg in das ewige Bewusstsein einbringt.
Nun zu den beiden „Häuschen“ und den blauen Wellen in der Mitte des Bildes am linken Rande. Diese Gebilde waren mir unverständlich und ich konnte sie nicht in das Bild einordnen. Sie sind mir erst durch die Beschreibung von Joachim Kahl zugänglich gemacht worden. Dafür danke ich ihm sehr.
Aus diesen Häuschen des Ursprungs können immer neue individuelle menschliche Individuen hervorgehen und – wenn ihnen eine Entwicklung gelingt, wie sie in diesem grandiosen Bild von Kandinsky dargestellt ist – ein sinnvolles und beglückendes Leben beginnen. Das Bild von Kandinsky kann ihnen dazu eine Hilfe sein.
Wer sich noch etwas mehr mit der Biografie Kandinskys informieren möchte, kann die folgenden Texte noch lesen.
Biographie von Wassily Kandinsky
Wassily Kandinsky war ein russischer Maler und zudem ein wichtiger und innovativer Theoretiker der abstrakten Kunst. Er wurde am 16. Dezember 1866 in Moskau geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Odessa. Schon als Schüler erhielt er Malunterricht. Nach dem Abitur studierte er Jura und Volkswirtschaft, was er mit der erfolgreichen Promotion abschloss. Schon während dieser Zeit entstanden frühe Werke mit einer damals noch „spätimpressionistischen“ Stilgebung.
Zur Profession des künstlerischen Wirkens kam er, nachdem er nach München übersiedelte. Dort studierte Kandinsky an einer privaten Malschule und wurde später an der Münchener Kunstakademie ein Schüler von Franz von Struck. Als Kunstlehrer und Gründer der Künstlergruppe Phallanx erhielt Kandinsky jedoch so wenig Resonanz, dass dieses Projekt schon 1904 eingestellt wurde. Während dieser Zeit in München lernte Kandinsky seine Lebensgefährtin Gabriele Münter kennen.
Zusammen entwickelten sie sich als junges Künstlerpaar zur expressionistischen Malerei hin und es entstand zusammen mit Franz Marc eine der Deutschland wichtigsten Künstlervereinigungen „Der Blaue Reiter“.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges war er gezwungen, nach Moskau zurückzukehren. In Russland lehrte er einige Jahre an revolutionären Kunstakademien. Schon 1922 kehrte Kandinsky aufgrund der sowjetischen Machtverhältnisse nach Deutschland zurück und wurde einer der wichtigsten Köpfe und Lehrer an der 1. Hochschule für Gestaltung: dem BAUHAUS. Diese Epoche endete jäh mit der Schließung des BAUHAUSES durch die Nationalsozialisten.
Als Emigrant und späterer französischer Staatsbürger hatte es Kandinsky in Frankreich schwerer Anerkennung als Künstler zu finden, da dort der Kubismus und der Surrealismus der abstrakten Malerei vorgezogen wurden.
Kandinsky starb am 13. Dezember 1944 in Neuilly-sur-Seine, die Malerei hat er auch im hohen Alter nie aufgegeben.
Über ein Bild des französischen Impressionisten Claude Monett, das er anlässlich einer Ausstellung in Paris 1898 gesehen hatte, schrieb Kandinsky in seiner Selbstbiographie: „Ich empfand dumpf, dass der Gegenstand in diesem Bild fehlt, und „merkte mit Erstaunen und Verwirrung, dass dieses Bild nicht nur packt, sondern sich unwischbar einprägt. Das war die ungeahnte, mir bis dahin verborgene Kraft der Palette, die über alle meine Träume hinausging.“ Man könnte diese Begegnung zwischen Monet und Kandinsky als die Geburtsstunde der gegenstandslosen Malerei bezeichnen; tatsächlich war es nämlich Kandinsky, der das erste gegenstandslose, oder wie er es nannte „Das erste abstrakte Aquarell“ (1910) malte. So bedeutungsvoll diese Tat indes für die gesamte Entwicklung der Malerei bis in unsere Tage auch war, so bildet sie doch nur den konsequenten Abschluss einer längeren Entwicklung, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatte. Die französischen Impressionisten waren es nämlich, die diesen Abstraktionsprozess eingeleitet hatten.
Der zweite Schritt erfolgte gegen Ende des Jahrhunderts durch die Kubisten, die die Perspektive als bewusste Sinnestäuschung aus ihren Bildern verbannten. Die Perspektive, die seit ihrer Entdeckung durch die Meister der italienischen Renaissance der gesamten abendländischen Malerei zur Erweiterung des Bildraumes in die Bildtiefe gedient hatte, wurde von den Kubisten abgelehnt, weil sie das Bild wieder als reine Fläche sahen und ihre Gegenstände daher nur noch zweidimensional malten. Sie mussten sich dabei nicht nur zwangsläufig von der Darstellung der sichtbaren Erscheinungsform abwenden, sondern auch die Realität künstlich und subjektiv umwandeln, sie mussten also abstrahieren, zumindest hinsichtlich des Bildraumes.
Die Abkehr von einer natürlichen Farbgebung vollzogen als erste die französischen „Fauves“. (Diesen Schritt hatte z.B. auch Vincent van Gogh schon vollzogen. H.L.)Sie verwandten mit Vorliebe die reine, unvermischte Farbe zur künstlerischen Steigerung der Bildwirkung. Durch den Verzicht auf Schatten und Farbschattierungen und durch das unvermittelte Nebeneinandersetzen von großen, ungegliederten Farbflächen abstrahierten sie die Wirklichkeit bis zur äußersten Grenze der Erkennbarkeit des Gegenständlichen.
Nach der Abstraktion des Bildinhalts, des Bildraumes und der Farbe unternahm Kandinsky schließlich den letzten Schritt: die völlige Abstraktion des Gegenstandes, der natürlichen Form. Was trieb ihn zu diesem radikalen Bruch mit einer jahrtausendalten Tradition? Seine Lebenserinnerungen können uns darüber einigen Aufschluss geben. Da berichtet er, wie er zum ersten Mal durch ein Mikroskop sah und dabei die seltsamen Formen und Strukturen des Mikrokosmos kennenlernte. Hier tat sich ihm eine völlig neue Welt auf, die keinerlei Analogie zu der Welt des Greifbaren hat. Aber auch die eigene Erfahrung und seine außerordentliche Fähigkeit, Dinge zu sehen, die andere übersehen, haben Kandinsky auf den Weg zur gegenstandslosen Malerei geführt. »Es war die Stunde der Dämmerung“, so berichtete er, »ich kam mit meinem Malkasten nach einer Studie heim, noch verträumt und in die erledigte Arbeit vertieft, als ich plötzlich ein unbeschreiblich schönes, von einem inneren Glühen durchtränktes Bild sah. Ich stutzte erst, dann ging ich schnell auf dieses rätselhafte Bild zu, auf dem ich nichts als Formen und Farben sah und das inhaltlich unverständlich war. Ich fand sofort den Schlüssel zu dem Rätsel: es war ein von mir gemaltes Bild, das an die Wand gelehnt auf der Seite stand. Ich versuchte den nächsten Tag bei Licht den gestrigen Eindruck von diesem Bild zu bekommen. Es gelang mir aber nur halb: auch auf der Seite erkannte ich fortwährend Gegenstände.
Ich wusste jetzt genau, dass der Gegenstand meinen Bildern schadet.
Kandinsky wurde in Moskau geboren, er ging in Odessa zur Schule und studierte Jura und Volkswirtschaft. Im Anschluss an sein Studium unternahm er eine längere Reise nach Paris, wo er durch persönlichen Kontakt zu einigen zeitgenössischen Malern mit der Kunst der Impressionisten in Berührung kam. Die Entscheidung, seine juristische Karriere aufzugeben und selbst zu malen, traf er als Dreißigjähriger nach einem sensationellen Erfolg einer Ausstellung französischer Impressionisten in Petersburg. 1896 ging er nach München, wo er die Malschule von Anton Azbe besuchte, die damals auf die jungen, fortschrittlichen Künstler eine größere Anziehungskraft ausübte als die konservative Akademie. Mit seinen frühen Bildern lehnte er sich noch eng an die französischen Impressionisten an, doch zeigte sich schon bald eine Tendenz zur Abstraktion.
In München lernte Wassily Kandinsky damals auch seinen Landsmann Jawlensky kennen, mit dem zusammen er 1909 die „Neue Künstlervereinigung“ gründete, aus der später „Der Blaue Reiter“ hervorging. Diesem Zusammenschluss haben Künstler von Rang wie Alfred Kubin, Paul Klee, August Macke und Gabriele Münter zu einem weltweiten Ruhm verholfen; für die Entwicklung der modernen Malerei in Deutschland wurde er von größter Bedeutung.
Der Kriegsausbruch 1914 beendete nicht nur diese fruchtbare Schaffensperiode Kandinskys, sondern hatte auch die Auflösung des „Blauen Reiters“ zur Folge. Marc und Macke meldeten sich als Freiwillige an die Front, Jawlensky und Kandinsky mussten Deutschland verlassen. Noch vor Beendigung des Krieges kehrte Kandinsky nach Rußland zurück. Nach der Revolution stand man dort der avantgardistischen Kunst keineswegs so ablehnend gegenüber, wie das heute der Fall ist. Die Roten sahen in der modernen Kunst eine Bestätigung ihrer revolutionären Ziele. Kandinsky wurde Mitglied des Volkskommissariats, Professor an der Moskauer Kunstakademie und der Universität. Aber letztlich doch enttäuscht über den weiteren Verlauf der bolschewistischen Bewegung verließ er 1921 Rußland. Er ging nach Berlin, das damals ebenfalls von politischen Unruhen erschüttert wurde. Ein Jahr später nahm Kandinsky eine Berufung an das Bauhaus in Weimar an. Er traf dort Feininger, Klee und Jawlensky; zusammen mit ihnen gründete er 1924 die Gruppe »Die Blauen Vier“. Die von ihnen veranstalteten Gemeinschaftsausstellungen reisten nicht nur durch Europa, sondern wurden auch in den USA gezeigt. Das Ansehen der zeitgenössischen deutschen Malerei in Übersee ist nicht zuletzt auf den Erfolg dieser Ausstellungen zurückzuführen.
1933 wurde das Bauhaus von den nationalsozialistischen Machthabern geschlossen, Kandinskys Bilder wurden beschlagnahmt, um sie als „entartete Kunst“ zu vernichten. Diesem Schicksal konnten sie nur entgehen, weil es im Ausland Interessenten gab, die bereit waren, dafür Devisen zu zahlen. Die Bilder wurden in der Schweiz zu lächerlich geringen Preisen verschleudert.
Kandinsky ging nach Paris, wo er bis zu seinem Tode wirkte. Wie kaum ein anderer hat er das Kunstgeschehen seiner Zeit gelenkt. Seine schöpferische Phantasie hat, indem sie alle Formen des Bestehenden sprengte, die Welt mit einem reichen Schatz neuer Formen beschenkt.
Lindemann, Gottfried: Kunst Künstler Kunstwerke, Essen 1966, S. 75f
Kandinsky und Klee im Bauhaus
Zahlreiche andere Künstler gaben dem Bauhaus großen Aufschwung und übten dort starken Einfluss aus: Muche, Schlemmer, Laszlo Moholy-Nagy, vor allem aber Paul Klee und Lyonel Feininger. Mit den beiden letzteren und Jawlensky vereinigte sich Kandinsky 1924 zur Gruppe »Die Blauen Vier«, um mit ihnen gemeinsame Ausstellungen zu veranstalten.
Das politische Klima zwang 1929 das Bauhaus leider zur Übersiedlung nach Dessau; wenig später schloss man es ganz, und die Künstler gingen ins Exil.
Kandinsky lebte bis zu seinem Tod in Frankreich. Er erfuhr nicht mehr, welchen Triumph ihm das Schicksal noch nachträglich bereitete, indem es seinen Namen weltberühmt machte.
In seinem stillen Zufluchtsort führte er sein Werk weiter, das er unaufhörlich bereicherte, und zwar trotz aktiver Tätigkeit auf anderen Gebieten, denen er sich während eines Rußlandaufenthaltes widmete. Seine feurigen »Inspirationen« aus der Vorkriegszeit wichen unter dem Einfluss Malewitschs und der russischen Konstruktivisten einer dynamischen und ausgesprochen geometrischen Architektur, in der später kreisförmige Elemente auftauchten.
Stets aber lässt Kandinskys Werk einen gewissen Humor und eine reiche Erfindungskraft erkennen, das es mit der schwungvollen populären Kunst und der Folklore Rußlands verbindet. In der beruhigenden Atmosphäre von Paris kam seine Vorliebe für die Farbe zum Durchbruch. Sie triumphierte in der Periode, die man seine »große Synthese« nennt. Hier vermischt sich poetische Intuition kühn mit lyrischer Begeisterung. Klee, der die ihn absorbierende Professur verloren und sich in der Schweiz niedergelassen hatte, arbeitete, ohne sich um Zeit und Mode zu kümmern, in einem vollkommen persönlichen Stil weiter, dessen unbefangene Frische und ununterbrochene Erneuerung seine besten Bürgen sind.
Alle Sujets dienen ihm zum Erfinden neuer Zeichen, in denen manchmal die Erinnerung an seine Reise nach Tunis spürbar wird, die ihm seine Berufung zum Maler bestätigte. Seine kleinen Bilder, die zur visuellen Ergötzung geschaffen waren, zeigen eine grenzenlose Welt, in der die flüchtigsten Wahrnehmungen zur Melodie, zu einem Lächeln und zu Poesie werden.
Diehl, Gaston: Die Modernen, Malerei unserer Zeit, Südwest Verlag München, S. 80